Thema: Ansichtskarten: Alte Ansichten
Altmerker Am: 20.12.2015 16:44:14 Gelesen: 334361# 97@  
Ich darf hier mal eine Buchempfehlung geben, oder nicht?



Kartengruß vom Abstellgleis

„Bahnhöfe hätten, könnten sie es denn, viel zu erzählen“, findet Mario Schulze. Sie haben in ihrem meist langen Leben einiges gesehen. Weil sie nicht reden können, schreibt der Harslebener Autor ihre Geschichten auf. Vor wenigen Tagen erschien im Herdam Verlag Gernrode ein Buch über fast vergessene Bahnhofsmotive. Die findet der Sammler und Texter auf historischen Ansichtskarten. Der erste Band einer neuen Reihe befasst sich mit den Bahnhöfen im heutigen Sachsen-Anhalt.

Das über 150 Seiten dicke Buch, auf hochwertigem Papier gedruckt, spricht gleich drei Käufer- und Lesergruppen an. Die durchaus geschätzten „Pufferküsser“ werden den bahntechnischen und -historischen Aspekt in den Fokus nehmen, die Philokartisten die verschiedenen Bahnhofs- und Lokomotivansichten. Und nicht zuletzt überrascht der Lehrer Mario Schulze mit der Abbildung von Bahnpoststempel die Philatelisten, die sich der Bahnpost verschrieben haben.
Bahn und Ansichtskarten verfügen durchaus über Parallelen. Die Hochzeit der Bildpostkarte liegt zwischen 1895 und 1939 und gilt auch als große Zeit der Eisenbahnen. Schulze zeigt nicht nur Bildseiten der Ansichtskarten, sondern lässt den Leser teilhaben an dem, was neugierige Augen auf Postkarten entdecken können. Wer eine Postkarte schrieb, der wollte seine Lieben zu Hause an der Reise teilhaben lassen. So gibt es schöne Belege, die zeigen, die Reisenden vertrieben sich auf Umsteigebahnhöfen die Zeit mit dem Verfassen eines Kartengrußes.

So erfährt man, dass zwischen Alexisbad, Elend, Wernigerode und Brocken Bahnhöfe für die Städte und Dörfer Aushängeschild und Zugangstor zur weiten Welt gleichermaßen waren. Sie waren liebevoll gepflegt und voller Leben, oft sogar mit stillem architektonischen Charme. Da gab es etwas, was im gut ausgestatteten Werk Bahnhofskultur heute. Heute, in dieser hastenden Welt, ein unvorstellbarer Gedanke, stellt der Autor fest. „Für so manches Empfangsgebäude gäbe es heute so gut wie keine dokumentarischen Belege mehr, wären da nicht die Ansichtskarten, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch von sehr kleinen Bahnhöfen gedruckt wurden.“

Der produktive Schreiber und Sammler Schulze verführt seine Leser mit historischen Ansichtskarten aus den Jahren 1898 bis 1945 zu einem Streifzug durch eben jene längst vergangene Bahnhofskultur. Bewusst sucht er dabei die Schätze, schaut weniger auf Hauptbahnhöfe in Halle oder Magdeburg, sondern reist per Ansichtskarte durch Altmark, Jerichower und Mansfelder Land, durch Börde, Harz, und den Unstrut-Süden. Die Abbildungen ergänzt er mit Ausschnitten aus dem Karte zu einem Fahrplan, der über ein halbes Jahrhundert auf dem Umschlag hat, um den heutigen nicht-mehr-Bahnreisenden einen geografischen Einblick zu geben. Die Harz- und Vorharzregion rückt Mario Schulze, der ziemlich bodenständig scheint, sehr gut ins Bild. Dabei konzentriert er sich zum Glück nicht vorrangig auf die viel beschriebenen Schmalspurstrecken, sondern entdeckt mit dem Betrachter viele der längst von der Natur wiedergeholten Normalspurstrecken. Er freut sich mit dem Leser, wenn Bahnhofsgebäude nicht wie vielerorten zerfallen, sondern genutzt werden. Natürlich wird es Eisenbahn-Fans geben, die fragen, warum Blankenburg fehlt, aber Derenburg dabei ist, Halberstadt kürzer kommt als Heudeber-Danstedt und Ballenstedt. Was auffällt, hier fachsimpelt kein Schienen-Freak, sondern ein Reisender und Heimatgeschichtsverbundener.
 
Quelle: www.philaseiten.de
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