Thema: Deutsches Reich: Ganzsachen Postkarten
evwezel Am: 19.04.2024 10:35:49 Gelesen: 260# 58@  
Liebe Sammlerfreunde,

Ich zeige Euch hier eine Ansichtskarte, verschickt am 2. November 1915 nach Igstadt. Auf den ersten Blick handelt es sich nur um eine freundliche Ansichtskarte von einem Onkel an seine Nichten.





Postaufgabestempel

BERLIN W
2.11.15.9-10V(ormittags)
* 5 *

Anschrift

An die Geschwister
Rosi & Marta
Loewensberg
Igstadt
bei Wiesbaden

Text

Das nächste Mal
nehme ich Euch
beide mit hierher
Herz. Gruß
Onkel Julius

--

Was hier auffällt, ist dass Julius keine genaue Adresse (Vorderstraße 21) erwähnt. Igstadt ist aber so klein, dass die Karte auch ohne Straßennamen ankam.

"Loewensberg" (oder Löwensberg), "Rosi" (Rosa), und "Martha" sind Namen mit einer Jüdischen Herkunft. Auf der Webseite der Heimat- und Geschichtsverein Igstadt fand ich die folgenden Informationen:

"Um die Jahrhundertwende lebten ca. fünf jüdische Familien in Igstadt. Die Familien lebten vom Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, beispiels weise als Milchhändler, Viehhändler, Getreide- und Futtermittelhändler. Der Heimatverein veröffentlichte im September 2014 die Publikation "Sie waren unsere Nachbarn. Geschichte und Schicksale jüdischer Familien aus Igstadt." [1]

In dieser Publikation finden wir auch Informationen über Julius Löwensberg und seine Nichten Rosa und Martha:

Onkel Julius

Julius war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Gut ausgebildet, weltoff en und mehrsprachig, war er Teilhaber und Geschäftsführer in mehreren Unternehmen in Frankfurt. Als Familienmitglieder, auch die in Igstadt lebenden, zunehmend existentiell bedroht waren, kümmerte er sich als Bevollmächtigter um zahlreiche juristischen Belange, insbesondere um die Verkäufe des Besitzes. Er zeigte großen Familiensinn, ohne selbst eine eigene Familie gegründet zu haben. Gegen den Nazi-Terror war auch er machtlos. Seine Ausreisegenehmigung nach Chile konnte er nicht mehr nutzen. Onkel Julius wurde am 22.11.1941 deportiert und am 25.11.1941 im KZ Kowno ermordet.

Wir kennen die letzten Stunden von Julius:

„Die Frankfurter wurden, getrennt von den anderen Deportierten aus Berlin und München, in die Zellen des Fort IV gebracht und verbrachten dort die Nacht. Hinter den hohen Mauern des Forts (...) waren bereits große Gruben ausgehoben. (...) Die verantwortlichen Deutschen und Litauer ließen am nächsten Tag die Deportierten in einer Gruppe von 80 Leuten antreten. Sie ließen sie eine Art Frühsportübung im Hof des Forts durchführen und begannen schließlich, die Menschen im Dauerlauf aus dem Innenhof heraus zu den Gruben außen an der Mauer zu treiben. Als diese auseinanderzulaufen begannen, prügelte man sie in die Gruben hinein. Die meisten Opfer wurden, nachdem sie unten lagen, erschossen. Das Feuer kam aus Maschinengewehren, die auf den bewaldeten Hügeln oberhalb der Gruben versteckt waren. Aber auch diejenigen, die nicht gelaufen (...) waren, wurden (...) wo sie sich gerade befanden, erschossen. Von den Opfern, die bis zum letzten Moment getäuscht worden waren, hat niemand überlebt (...)“, schreibt Monica Kingreen. Ein Jahr später wurden alle Leichen von jüdischen Häftlingen aus dem Massengrab ausgegraben und unter größter Geheimhaltung verbrannt. Vermutlich war auch die Leiche von Julius dabei. Die Erschießungen von Kowno waren die erste vollständige, systematische Vernichtung eines ganzes Transportes. Auch die Menschen der Transporte aus Berlin und München wurden am 25. November erschossen; insgesamt waren es 2.934 Frauen, Männer und Kinder an diesem Tag.

Rosa und Martha Löwensberg

Wenn Onkel Julius diese Karte schrieb, waren die Kinder noch sehr jung. Rosa war 3 Jahre alt (geboren am 23. April 1912) und Martha war ein 1 Monate altes Baby (geboren am 26. September 1915). Der Text war also sehr ungewöhnlich für die Kinder. Vielleicht handelt es sich nach einem Besuch in Igstadt um eine scherzhaft gemeinte Einladung für später einmal. Onkel Julius hat das evt. beim Abschied an der dreijährigen Rosa versprochen. Wir wissen es einfach nicht und werden dieses Rätsel leider nicht mehr lösen können.

Rosa und Martha sind früh emigriert, Martha nach England/London und Rosa nach Israel.

[1] Siehe https://www.igstadt-hgv.de/%C3%BCber-igstadt-von-a-z/j%C3%BCdische-familien/20-jahrhundert/#:~:text=Um%20die%20Jahrhundertwende%20lebten%20ca,Mainz%20so%20nahe%20gelegen%20sind.

Wenn jemand von Euch auch eine Ansichtskarte von Julius Loewensberg besitzt, dann höre ich es natürlich gerne!

Viele Grüße,

Emiel
 
Quelle: www.philaseiten.de
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