Thema: Deutsches Reich Inflationsbelege
juni-1848 Am: 05.10.2013 19:18:41 Gelesen: 4263859# 2482@  
@ rostigeschiene [#2481]

Moin Werner,

zu jener Zeit hatten Private nur vereinzelt ein Telefon im Hause. So wurde alles, was damals als besonders eilig galt, per Eilboten oder auch per Telegramm beschleunigt. Der einfache Post wurde (in Städten je nach Anzahl der täglichen Bestellgänge) im Laufe des Tages abgetragen.

Durch Eilboten sollte eine frühest mögliche (Tages-)Zustellung erreicht werden.
Die Unmengen an Eilbriefen, Eilkarten sowie die Rohrpost in Berlin oder Wien, die exponentielle Zunahme von Telefonanschlüssen etc. lassen nur den Schluß zu, dass der "wichtige Mensch" (heute zu erkennen an der überall und rund um die Uhr Erreichbarkeit) mit dem Tempo der stetig fortschreitenden "Industrialisierung" mithalten musste.

Im gleichem Maße nahmen auch die heute selbstverständliche "monetäre Geschwindigkeit" zu, wie folgende Karte andeutet:



(Datenbankeintrag folgt)

Lehrer Knisch aus Berlin W35 verwendete am 14.1.1920 die Germania-Ganzsache P107I (10 Pf., gep. Infla und Dünsch*), die in der PP4 (1.10.1919 bis 6.5.1920) das Ortsporto abdeckte. Die fehlenden 5 Pf als Fernkarte wurden als doppelter Fehlbetrag beim Verlag in Hamburg eingehoben (Kreisstempel "Porto" einer Hamburger Postanstalt).

* Warum dieser Prüfaufwand ? Was ist an dieser Ganzsache so besonders ?

Viel "spannender" finde ich den knappen Inhalt:

Der im Pensionat (deswegen im Berliner Adressbuch von 1920 weder auf Seite 1365 noch auf Seite 3989 gelistet) der Marie Bielicke wohnende Lehrer Knisch (der Name ist jüdischer Herkunft) bestellte postalisch direkt beim Verlag ein Exemplar "Handbuch zur Judenfrage" von Theodor Fritsch** und bat um höfliche Begleichung des Betrages von seinem "Postscheckkonto". Für private Nutzer waren Bankkonten zu jener zeit eine "kostspielige" Angelegenheit. Das Wort Geld schien im Haus Lützowstr. 69 (in W 35) jedoch ein und auszugehen, residierten hier u.a. Hypotheken Charlet und Schulze, Zigarren Harm, der Fabrikant Zocher und nicht zuletzt Spielwaren Würzburg (ein jüdischer Kaufmann).

** Quelle: [http://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Fritsch]

Theodor Fritsch (Geburtsname Emil Theodor Fritsche; * 28. Oktober 1852 in Wiesenena; † 8. September 1933 in Gautzsch) war ein deutscher Publizist und Verleger, der antisemitische Schriften schrieb und herausbrachte. Fritsch schrieb auch unter den Pseudonymen Thomas Frey, Fritz Thor und Ferdinand Roderich-Stoltheim.

In seinem 1902 in Leipzig gegründeten Hammer-Verlag erschienen neben der Zeitschrift Der Hammer – Blätter für deutschen Sinn (1902–1940) zahlreiche antisemitische Propagandaschriften, darunter auch deutsche Übersetzungen der Protokolle der Weisen von Zion und der von Henry Ford unter dem Titel Der internationale Jude herausgegebenen Zeitschriftenaufsätze des Dearborn Independent. Mit der Antisemitischen Correspondenz schuf Fritsch 1885 eine Art Diskussionsforum für Antisemiten verschiedener politischer Richtungen. 1894 gab Fritsch die Redaktion der Zeitschrift an Max Liebermann von Sonnenberg ab, der sie unter dem Namen Deutsch-soziale Blätter zum Organ seiner Partei machte.
In seinen zahlreichen eigenen Publikationen untersuchte Fritsch die angebliche „Verjudung“ der christlichen Religion, des Adels, des Landbesitzes, der Presse, der Richterschaft und diverser anderer Berufsgruppen. Seine ultraradikalen Ansichten zur „Judenfrage“ brachten ihm Geld- und Gefängnisstrafen ein.

Öffentliches Aufsehen erregten vor allem die Gotteslästerungsprozesse zwischen 1910 und 1913. Im Hammer und in seinem Buch Mein Beweis-Material gegen Jahwe (1911) hatte Fritsch die sittliche Minderwertigkeit der jüdischen Religion zu erweisen versucht. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) zeigte ihn daraufhin wegen Beleidigung einer Religionsgemeinschaft und Störung der öffentlichen Ordnung an. In den ersten beiden Prozessen wurde Fritsch zu Gefängnisstrafen verurteilt, im dritten Prozess aufgrund eines umstrittenen theologischen Gutachtens freigesprochen.

Fritschs Antisemiten-Katechismus erschien erstmals 1887 im Verlag von Hermann Beyer. Eine aktualisierte und erweiterte Fassung gab Fritsch unter dem Titel Handbuch der Judenfrage ab 1907 heraus. Das Buch besteht aus mehreren Teilen, die einen hohen Gebrauchswert für Antisemiten haben sollten. So findet sich etwa eine antisemitische Zitate-, Literatur- und Argumentsammlung, antisemitische Forderungen und Statistiken (z. B. Anteile von Juden an bestimmten Bevölkerungsgruppen), Angaben über die Größe der jüdischen Gemeinden einzelner Städte, umstrittene Auszüge aus dem Talmud. Daneben findet sich das Parteiprogramm der antisemitischen Deutschsozialen Partei oder Listen, die antisemitische Buchhandlungen, Verlage oder Zeitschriften aufzählen oder „judenfreie“ Geschäfte („Verzeichnis empfehlenswerter deutscher Firmen“) z. B. für den Bezug von Apfelwein oder Olivenöl benennen. Unter den empfohlenen Tageszeitungen finden sich nicht nur Parteiblätter der Antisemiten, sondern auch zahlreiche – besonders katholische – Regionalzeitungen des deutschsprachigen Raumes, die aufgrund ihres Antisemitismus ausgewählt wurden. Die antisemitische Polemik geht dabei nahtlos in die offene und ausdrückliche Bekämpfung des Christentums und besonders des Katholizismus („in seiner Substanz jüdisch“) über. Das Buch erlebte bis 1945 insgesamt 49 Auflagen und bildet, teilweise bis heute, eine Fundgrube für Nationalsozialisten, Neonazis und Revisionisten.


Nicht unwahrscheinlich, dass Lehrer Knisch die Zeichen der Zeit vorausahnte und jenes Handbuch zur Orientierung bestellte.

Das war ein Beispiel dafür, was in einem harmlosen Beleg so alles zu entdecken ist, wenn - ja wenn man sich der unendlichen Möglichkeiten des Internets bedient.

In diesem Sinne fröhliches Sammeln und Forschen, Werner
 
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