Thema: Brasilien: Ganzsachen
Gunni Am: 23.10.2014 14:11:36 Gelesen: 17778# 2@  
Hallo Ingo,

besser spät als nie. :-) Habe durch Zufall heute deinen Beitrag gelesen und kann dir zu deinen Fragen hoffentlich einige Ansätze geben

KATALOG:

ASCHER eignet sich leider nur sehr bedingt zum sammeln und einordnen brasilianischer Ganzsachen (speziell der Kartenbriefe), hier empfehle ich unbedingt den Brasilienteil von Higgins & Gage (Ausgabe 1984) und/oder den "Catalogo de Selos do Brasil 1994 Volume IV - Inteiros Postais", bei letzterem Katalog können sogar die Preise sehr gut 1:1 auf 2014 gerechnet werden, während die Preise bei H&G zu ignorieren sind. Da beide Kataloge einen eigenen Ursprung haben und nicht abgeschrieben wurden, wird man in beiden Katalogen Typen finden, die jeweils im anderen Katalog nicht aufgeführt sind. Die modernen Ganzsachenkataloge von RHM versuche ich wegen vieler Fehler und inflationärem Nummernsystem zu vermeiden.

GESCHICHTLICHES:

Zuerst einige Hintergrundinformationen. Nach Aufhebung der Sklaverei 1888 und Ausrufung der Republik 1889 kam es in kürzester Zeit zum Zusammenbruch einer funnktionierenden Wirtschaft in Brasilien. Während die ehemaligen Sklaven die neuerworbene Freiheit "genossen" (Entstehung des heutigen Karnevals), versuchten Handwerker, Intelektuelle und die (noch existierende) Mittelschicht verzweifelt, ihre Position zu halten. Das hatte auch Auswirkungen auf die "Casa De Moeda" (brasilianische Bundesdruckerrei), 1892 war die Papier- und Ersatzteilversorgung zusammengebrochen und man mußte improvisieren. Das führte dazu, daß die erste Ganzsachenserie der Republik auf den unterschiedlichsten Papieren gedruckt wurde, mit und ohne Linien in verschiedenen Farben, bekam man ein bischen Papier oder Farbe, ging es sofort ab damit in die Druckmaschinen, um die Nachfrage einigermaßen zu decken (hier gibt es angeblich sogar Mini-Auflagen von ca. 100Stück).

Bei den Druckmaschinen war die Situation noch dramatischer, denn Ausfälle waren an der Tagesordnung, Mechaniker und Ersatzteile nicht verfügbar. Erschwerend kam hinzu, daß Personal entweder nicht oder nur unterqualifiziert zur Verfügung stand. Dies führte letztendlich dazu, daß man aus Verzweiflung sogar die Restbestände der Ganzsachen des Kaiserreichs wieder zur Postbeförderung benutzte und begründet auch die unzähligen Varianten der Ausgaben bis 1894.

FRAGEN:

Deine gezeigten Kartenbriefe können alle der Ausgabe vom November 1893 zugeordnet werden. 2 primäre gefärbte Papiersorten wurden für diese Ausgabe genutzt (rosa und blau), leider unterlief dem Setzer ein gravierender Fehler, denn statt "Carta Bilhete" (Kartenbrief) hatte er alle Auflagen mit "Bilheta Postal" (Postkarte) versehen. Damit diese Drucke doch noch benutzt werden konnten, wurden ALLE Drucke nachträglich mit "Carta Bilhete" in schwarz überdruckt. Bis heute ist kein Stück bekannt, daß NUR den Aufdrück "Bilheta Postal" hat. Für alle Auflagen in beiden Farben gibt es markante Abweichungen, die sich vor allem auf die Akzente im Text "Neste Lado So O Endereco" beziehen. Alle anderen Abweichungen würde ich als "Druckzufälligkeiten" auf Grund der problematischen Herstellung einordnen, auch die Zähnungsausfälle, Teildrucke, Druckverschiebungen und Verzahnungen, man mußte ja alles irgendwie verwerten.

Kurz danach und noch im gleichen Monat 1893 wurden dann weitere identische Kartenbriefe gedruckt (wieder auf beiden Papiersorten), die nun das korrekte Wort "Carta Bilhete" trugen und nicht überdruckt wurden.Hierzu hat man aber aus Mangel an Optionen gleich den Überdruckstempel genutzt. Unterscheiden kann man dies, da der rote Unterdruck mit "Bilheta Postal" fehlt. Eine weitere signifikante Unterscheidung ist, daß der Text "Neste Lado So O Endereco" nun in kleinen Buchstaben ausgeführt wurde. Hier gibt es unzählige Varianten, die vor allem wieder die Schrift betreffen (Akzente, Abstände etc.), des weiteren kann man hier bei den Adresslinien zwischen engen und weiten Punktabständen unterscheiden (was wiederum mit den mangelhaften Druckmaschinen zu tun hatte). Die Drucke liefen aber schon deutlich sauberer ab.

Erst mit Portoerhöhung am 01.03.1894 und Eintreffen größerer Mengen an Ersatzteilen sowie neuen Maschinen (soweit mir bekannt aus Österreich)konnte man das Chaos mit der Ausgabe des 200R$ Kartenbriefes vom Juli 1894 einigermaßen in den Griff bekommen. - Diesen kann man als "fast" perfekt bezeichnen, wenn man von der Unterscheidung der Buchstaben absieht.

Ich hoffe, die Ausführungen helfen dir ein bischen zur besseren Orientierung

Gerne stehe ich für weitere Fragen zur Verfügung.

Viele Grüße

Gunni
 
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