Thema: Grossbritannien: Der Brexit und seine Folgen für Europa
Erdinger Am: 28.06.2016 13:23:58 Gelesen: 4037# 5@  
@ merkuria [#3]

Eines der interessantesten Erlebnisse der letzten Jahre hatte ich im Frühstücksraum eines Hotels. Eine vielköpfige Schweizer Familie hatte an einem langen Tisch Platz genommen, der patron - erkennbar - in der Mitte. Er sprach jedes seiner Familienmitglieder am Tisch an, auf Deutsch, aber auch auf Französisch, Italienisch und Englisch, letztere Sprachen nicht perfekt, aber mit Herz und Verstand. Die Kultur war bei allen dieselbe, die Identität nicht unbedingt.

Die Schweiz, in der du lebst, ist einer der ersten Nationalstaaten der Welt. Die Kultur war trotzdem nicht immer die gleiche. Bevor Mitte des 19. Jahrhunderts der Sonderbundskrieg ausbrach, tat sich eine tiefe Kluft zwischen Evangelischen (Sammelbegriff, um’s nicht komplizierter zu machen) und Katholiken auf. Und das waren damals noch Kulturunterschiede.

Mag sein, dass die politische Linke seit jeher übernational orientiert war. Die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft jedoch waren vor allem Konservative. (Lies einmal die Biografie von Alcide de Gasperi in der Wikipedia durch. Als Trientiner besaß er eigentlich zwei Identitäten. Er wurde nicht irre daran.) Sie mussten 1945 die negativen Bilanzen der Nationalstaaten aufarbeiten. Auf deutscher Seite wurden in den Achtziger- und Neunzigerjahren die europapolitischen Weichen vor allem von Helmut Kohl gestellt. Man kann zu ihm stehen, wie man will, aber er war wahrlich kein Linker. Was Politiker heute aus dem Erbe ihrer Vorgänger machen, ist diskutabel, aber kein Grund, sich in Verschwörungstheorien zu ergehen.

Es ist an uns, unsere Kultur zu erhalten, und die Schuld nicht bei Zuwanderern oder Politikern zu suchen. Letzteres kann man bequem am Stammtisch und in Internetforen machen, Ersteres fordert Einsatz. Daran hapert’s halt auch oft.

Dietmar
(halb Deutscher, halb Flame)
 
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