Thema: Altdeutschland Bayern: Briefe erklären
bayern klassisch Am: 26.09.2016 12:36:40 Gelesen: 327059# 102@  
@ bayern klassisch [#96]

Liebe Freunde,

nach einen wunderschönen Kurzurlaub zurück freue ich mich sehr, dass dieses zugegebenermaßen nicht ganz leichte Thema doch seine Knobler und Liebhaber gefunden hat, was ganz klar für das Niveau dieses Forums und seiner Mitglieder spricht.

Max hatte schon erwähnt, was eigentlich nur ganz wenige Philatelisten wissen und nicht vorausgesetzt werden kann: Zum 1.10.1852 mit dem Vertrag Bayern - Schweiz (für die Schweiz erst zum 15.10.1852 gültig) teilte die bayer. Postverwaltung ihren Poststellen mit, dass die Schweiz in 2 Rayons (Entfernungsgebiete) zu Bayern eingeteilt worden war; die Orte des 1. Rayons, also in bayerischer Nähe, waren einzeln angegeben worden und man sagte, dass alle anderen Zielorte auf den Briefen logischerweise im 2. Rayon zu Bayern liegen mussten. Briefe in den 1. Rayon kosteten für die CH - Strecke 3 Kreuzer, alle anderen in den weiter entfernten Rayon 6 Kreuzer.

Man hatte bei der bayerischen Post aber einen Fehler begangen und Kreuzlingen vergessen. Das führte unweigerlich dazu, dass Briefe in diesen kleinen und unbedeutenden Ort nahe der badischen Grenze, der geographisch im 1. Rayon (also nahe) zu Bayern lag, weil der Ort nicht in der Liste der Orte des 1. Rayons aufgeführt worden war, automatisch im 2. Rayon zu liegen schien, wofür Bayern für die CH 6 Kreuzer anzusetzen hatte.

Von Lindau mit dem Dampfboot nach Romanshorn und weiter bis Kreuzlingen waren es nur Luftlinie 40 km, aber der Grenzrayon war nur 5 Meilen (= 37,5 km) und Kreuzlingen stand auch nicht auf der Liste der Orte, von denen aus er im Grenzrayon gelegen hätte, so dass wir die Grenzrayontheorie (so schade das ist!) leider vergessen müssen.

Dazu kam, dass Bayern bei frankierten Briefen bis zum 31.3.1854 darauf bestand, dass das bayerische Franko, von Lindau aus immer 3 Kreuzer, in Marken auszudrücken war, das Weiterfranko für die CH aber bar kassiert und siegelseitig notiert werden musste. Dieses war später über die die Briefe begeleitende Briefkarte mit der Schweiz in Romanshorn (daher hatte der Brief auch dort einen Stempel erhalten, weil man das bayerische Briefepaket dort geöffnet und alles auf seine Richtigkeit geprüft hatte) abzurechnen.

Noch Ende November 1852 war in Bayern keinem aufgefallen, dass Kreuzlingen im 1. Rayon in der Liste vergessen worden war, aber zwischen Ende November und dem 1. Dezember 1852 hatte man den Fehler bemerkt und den Ort sofort "nachgemeldet", wodurch die bayer. Postexpeditoren ihre 3 Kr. Liste um eben diesen erweiterten.

Der Brief stammt aber vom 6.12.1852, so dass man in Lindau wusste, dass er nach dorthin nur 6 Kr. kosten würde - je 3 Kr. für Bayerns 1. Rayon und den 1. Rayon der Schweiz. Offenbar wusste das auch der Absender, denn er klebte etwas unvorsichtig gleich 6 Kreuzer auf.

Jetzt hatte die Post in Lindau das Problem, dass wegen der sog. geteilten Frankoabgeltung (3 Kr. in Marke für Bayern, 3 Kr. Barfrankatur für die Schweiz) schon die gesamten 6 Kr. auf dem Brief klebten. Was tun? Für diesen Fall sah der Vertrag und die Durchführungsverordnung, die ja mit jedem neuen Postvertrag einher ging, keine Lösung vor.

Hier handelte man praktisch: Man ließ die Marke auf dem Brief, wie wir sehen. Aber Bayern musste nun 3 Kr., die ja nicht in der Kasse waren, an die Schweiz weiter vergüten. Also dürfte man dem Lindauer eine 3 Kreuzer Marke verkauft haben und diese 3 Kr. als Weiterfranko für die Schweiz verbucht haben.

Daher war jetzt mit der Schweiz alles in Ordnung - auf dem Brief selbst konnte man kein Weiterfranko hinten notieren, sonst wären es ja optisch 9 Kreuzer gewesen, die er gekostet hätte und die Schweiz bekam über die Briefkarte ihre 3 Kr. von Lindau gutgeschrieben. Dafür spricht auch, dass der Empfänger nicht nachbelastet wurde, sonst hätte er 10 Rappen Nachtaxe zu entrichten gehabt.

Schwere Kost - aber wenn man sich das Geschriebene in aller Ruhe durch den Kopf gehen lässt, erschließt sich einem diese doppelte Besonderheit schnell und man erkennt, warum keine Handvoll dieser ganz besonderen Briefe bis heute erhalten blieben.

Liebe Grüsse,
Ralph
 
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