Thema: Deutsches Reich 909/910 SA/SS: Michel streicht die Briefnotierungen
olli0816 Am: 16.01.2020 09:53:12 Gelesen: 138306# 209@  
@ achim11-76 [#205]

Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ausgabe in Berlin verausgabt wurde ist Nahe null. Die Marken wurden in Wien gedruckt und dort haben die Besatzer - Russland eroberte Wien - die Bestände gefunden. Dazu die ganze Makulatur und nicht wenige geschnittene Ausgaben.

Hier der wichtigste Satz aus Wikipedia zu den Daten der Besetzung: Am 16. März 1945 begann die Rote Armee mit dem Angriff auf Wien. Am 15. April war die Stadt letztlich erobert. Der Kampf im Stadtgebiet dauerte vom 6. bis 13. April.

Das hieße, die Reichspost hätte die Marken irgendwann um den 1. bis vielleicht 6.4. abtransportieren müssen. Dazu kommt, dass die Luftherrschaft der Alliierten in dieser Zeit so drückend war, dass ein Transport von Wien nach Berlin äußerst schwierig war. Mit der Eisenbahn faktisch kaum möglich und per Autotransport wegen Benzinmangels auch nicht gut zu realisieren. Man kann davon ausgehen, da sich die Besetzung Wiens schon ab Mitte März abzeichnete, dass die Prioritäten für Transportkapazitäten anderweitig lagen. Aber selbst wenn sie ein paar Laster losgeschickt haben, dann ist die Möglichkeit nicht so klein, dass sie nicht durchgekommen sind.

In Berlin war die Lage zu dem Zeitpunkt genauso prekär. Südlich von Berlin ist die russische Armee schon am 17. April durchgebrochen und hat große Teile des Weges von Süden nach Berlin immer mehr versperrt. Am 19.4. waren bereits einige wenige Vororte besetzt und auch, wenn es Postämter gab, die am 20.4. noch offen waren, so hatten die sicher andere Gedanken als einen SA/SS-Satz neu zu verkaufen. Berlin war zu diesem Zeitpunkt unmittelbares Kriegsgebiet.

Genau hier schließt sich der Kreis. Bisher habe ich noch keinen Brief gesehen, der irgendwie eine Chance gehabt hätte, dass er richtig gelaufen ist. Auch der von Hajo gezeigte Brief ist absoluter Nonsense. Die Mär von "vielleicht" richtig gelaufenen Briefen wird durch zwei Faktoren immer wieder aufs Neue genährt:

1. Es wurden häufig zurückdatierte echte Stempel verwendet, wenn natürlich auch komplett falsche Stempel vorhanden sind. Fredersdorf habe ich schon mal in einem anderen Zusammenhang gelesen und wie in #207 richtig geschrieben, können die Abstempelungen nur falsch sein, weil die Russen mit Sicherheit keine solchen Marken geduldet hätten.

2. Leider bieten auch größte Auktionshäuser solche Belege als vermeintlich echt an oder schreiben so einen Unsinn wie z.B. "der Einliefer nimmt an, dass diese echt gelaufen sind". Leider gibt's Leute, die auf solche - pardon - Scheißhausformulierungen hereinfallen, weil das dahinter stehende Auktionshaus sehr bekannt ist. Natürlich ganz schlechter Stil, aber ein paar Hundert EURO kann man damit natürlich abgreifen. Die Welt ist nicht immer ein Picknick.

Zu dem Zeigen von Stempeln auf diesen Marken: Ich habe selber ein oder zwei Sätze, die solche Abstempelungen besitzen. So ganz sehe ich den Sinn nicht dahinter, da es mit dieser Ausgabe eine ganze Reihe von Stempeln gibt. Die Leute haben lange Jahre gehofft, dass doch irgend einer echt sein könnte. Deshalb gibt es eine größere Vielfalt. Viele Leute da draußen haben ein Gusto für morbide Untergangsstimmung und der Satz ist so schön passend: Bevor die SS/SA in Berlin kämpfend untergeht, feiert das Dritte Reich diesen Umstand mit einem Briefmarkensatz für die Ewigkeit. Wären diese Organisationen nicht so abgrundtief verbrecherisch wie das Regime gewesen, wäre es sogar fast ein bisschen romantisch.

Man kann solche Briefe sammeln, wenn man will. Man kann auch 1000 EURO für so einen Brief ausgeben, wenn man denkt, er ist es einem wert. Das ist alles nicht schlimm. Nur sind es zumindest bisher alles Fälschungen und zurückdatierte Machwerke. Warum hat man die also vor 20-30 Jahren attestiert? Guess what: Man konnte prächtig damit Geld verdienen. Der Markenhandel und natürlich auch die Prüfer, die das attestiert haben. Das ist so ähnlich wie heute die Papiergläubigkeit für mittemäßig zu besetzende Sachbearbeiterstellen, wo ein Bachelor verlangt wird, die Tätigkeit aber 80 - 90% der Bevölkerung ohne Probleme bewältigen könnte. Wir sind ein Land der Zertifizierungen und Zettelgläubigkeit, wo ein Fachmann irgend etwas attestiert und das der Weisheit letzter Schluss sein muss. Leider ist die Realität häufig anders, als es auf dem Zettelchen steht. Und so sind diese Atteste anzusehen.

Grüße Oliver
 
Quelle: www.philaseiten.de
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