Thema: Peter Feuser: 2000–2020 Zwanzig Jahre Bleisulfidskandal
Jürgen Häsler Am: 01.06.2020 17:52:30 Gelesen: 20711# 69@  
Die hier gemachten Aussagen stellen die persönliche Meinung des Verfassers dar. Für die These, dass PVC-Folien für Schäden an klassischen Briefmarken verantwortlich sind, gibt es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse.

@ Richard

Herzlichen Dank für die Übernahme der Portokosten beim Versand der Broschüre „2000-2020 Zwanzig Jahre Bleisulfidskandal“

@ Peter Feuser

Hallo Peter,

da wir beide Mitglieder im WPhV Stuttgart 1882 e.V. sind, ist mir das „Du“ erlaubt.

Deine Broschüre „2000-2020 Zwanzig Jahre Bleisulfidskandal“ habe ich mit großem Interesse gelesen, und zwar von Seite 1 bis Seite 79.

Da ich Diplom-Chemiker mit Schwerpunkt „Organische Chemie“ bin und in Freiburg studiert habe, wo auch die Makromolekulare Chemie (Polymerchemie, „Chemie der Kunststoffe“) stark vertreten ist (Chemie-Nobelpreis 1953 für Hermann Staudinger für seine Entdeckungen auf dem Gebiet der makromolekularen Chemie) seien mir einige Anmerkungen erlaubt, um den von Dir geäußerten „Verdacht“ näher zu erläutern und zu ergänzen.

Wie Du in Deiner Broschüre richtigerweise feststellst, werden bei der Herstellung von Polyvinylchlorid (PVC) durch Polymerisierung von Vinylchlorid (Chlorethen) dem fertigen Kunststoff Zusätze beigemischt, die verschiedenen Zwecken dienen.

Wenn PVC für Folien verwendet werden soll, ist die Beimischung eines Weichmachers zwingend erforderlich, da reines PVC spröde ist und deshalb für Folien ohne Weichmacher nicht verwendet werden kann.

Die Bezeichnung („garantiert weichmacherfrei und säurefrei“) ist eine Werbeaussage, deren Aussagekraft nicht größer ist als die Aussagekraft des Werbeslogans „Weißer Riese – Seine Waschkraft macht ihn so ergiebig“.

„Weichmacherfrei“ bezieht sich lediglich auf die Abwesenheit der „klassischen“ Weichmacher Dibutylphthalat (DBP, auch Phthalsäuredibutylester genannt) und Di-n-octylphthalat (DOP, auch Phthalsäuredi-n-octylester genannt). Beide wurden früher in großen Mengen Weich-PVC zugesetzt. Bis vor ca. 10 Jahren war DBP sogar in den Kapseln eines pflanzlichen Arzneimittels enthalten, das von schwangeren Frauen geschluckt wurde und wo der Verdacht bestand, dass es zu Schäden am Ungeborenen kommt. [1]

Der Arzneimittelhersteller hatte sich zwar erfolgreich vor dem Landgericht Hamburg zunächst mit einer einstweiligen Verfügung und einem erfolgreichen Gerichtsurteil gewehrt [2], gab einige Zeit später aber dem öffentlichen Druck nach und entfernte das DBP aus der Rezeptur seiner Kapseln.

Daneben muss der PVC-Folie zwingend ein UV-Absorber und „Radikalfänger“ zugesetzt werden, um die Folie „alterungsbeständig“ zu machen. Tut man das nicht, spaltet UV-Licht schon nach relativ kurzer Zeit die Molekülketten. Im Sommer entsteht zudem unter dem Einfluss von Stickoxiden (aus Dieselmotoren) und Sonnenlicht bodennahes Ozon (O3) in der Luft, das nicht nur die menschliche Lunge, sondern auch die Polymerketten des PVC schädigt. Ohne UV-Absorber „zerbröselt“ die Folie schon nach wenigen Jahren zu kleinen Krümeln („Mikroplastik“). Als UV-Absorber werden schwefelhaltige Verbindungen eingesetzt, die mit Organo-Zinn-Verbindungen kombiniert werden können. 1996 wurden in Deutschland 3000 Tonnen Tributylzinnoxid (TBTO) hergestellt, davon aber weniger als 150 Tonnen verwendet und mehr als 95 % exportiert. Bei der Herstellung von Kunststoffen werden sie als Katalysatoren und Stabilisatoren eingesetzt. [3]. Diese Organo-Zinn-Verbindungen sind starke Fungizide (also Pilzgifte) und verhindern, dass die PVC-Folie und die darin eingelegten Briefmarken schimmeln können. TBT-Derivate waren bis 2002 auch auf Euro-Geldscheinen verwendet worden, um das Schimmeln der Geldscheine zu verhindern. Seit Juni 2010 sind trisubstituierte Zinnverbindungen und seit Januar 2012 auch disubstituierte Zinnverbindungen in Deutschland in Verbraucherprodukten verboten, weil sie bereits in kleinsten Mengen das Immun- und Hormonsystem des Menschen beeinträchtigen [4][5].

Daneben wird der PVC-Folie noch der von Dir beschriebene blaue Farbstoff zugesetzt, der zusammen mit der unvermeidlichen Gelbfärbung der PVC-Folie bei der alterungsbedingten „Vergilbung“ im Wege der additiven Farbmischung weißes Licht ergibt und so die Brillanz und hohe Transparenz der Folie enthält.

Nun zu den von Dir besprochenen „klassischen“ Briefmarken. Das folgende gilt aber auch für viele Bund-Marken (bis ca. 1960) wie Mi-Nr. 119 (Friedrich Fröbel), Mi-Nr. 136 (70 Pf Posthorn in gelborange, immerhin 500 MICHEL-Euro in postfrisch) und Mi-Nr. 158 (Theodor Fliedner). Deshalb kann ich mich als Bund-Sammler auch nicht einfach zurücklehnen und sagen: „Das geht mich nichts an.“ Außerdem bin ich Sammlerfreund Jürgen Herbst, der in der Strukturkommission des BDPh die Einzelmitglieder vertreten hat und ein versierter Sachsen-Sammler ist, noch einen Gefallen schuldig. Und Dich als meinen Vereinskameraden unterstütze ich natürlich ebenfalls gerne.

Die verwendeten Druckfarben „klassischer“ Briefmarken enthalten teilweise die anorganischen Farbpigmente Chromgelb (Blei(II)-chromat) sowie Chromorange und Chromrot (Blei(II)-hydroxidchromat / Blei(II)oxidchromat. Es ist also sowohl zweiwertiges Blei (Pb von lat. Plumbum) als auch Chrom (Cr) in der Oxidationsstufe (+VI) vorhanden. Pb2+ ist ein sogenanntes „weiches“ Kation (großer Ionenradius von 119 pm (Picometer, ein Billionstel Meter), geringe Ladungsdichte), es ist kugelförmig. Das relativ „harte“ Chromat-Ion (CrO42-) im Chromgelb hingegen hat die Gestalt eines Tetraeders (dreieckige Pyramide, die von vier gleichseitigen Dreiecken begrenzt wird). In den Ecken der Pyramide sitzen die Sauerstoffatome und tragen eine relativ hohe negative Ladungsdichte, in der Mitte der Pyramide (also im Inneren) sitzt das Chrom-Atom.

Werden nun Briefmarken mit den genannten Chrompigmentfarben in einem (von Dir sehr zutreffend als „Mikroklima“ beschriebenen) Zustand mit Schwefelwasserstoff (H2S) in Kontakt gebracht, so läuft die folgende chemische Reaktion ab:

PbCrO4 + H2S = PbS + H2CrO4

Das bei der Deprotonierung von Schwefelwasserstoff gebildete kugelförmige, ebenfalls „weiche“ Sulfidion (S2-) verdrängt das Chromation aus der Kristallstruktur. Dabei entsteht das braunschwarze (Dunkel-Verfärbung !!!), extrem schwerlösliche Blei(II)sulfid unter Freisetzung von Chromsäure (H2CrO4).

Auf Seite 11 Deiner Broschüre findest Du eine ähnliche Reaktion beim Bleiacetat- (Pb(CH3COO)2) Papier, das zum Nachweis von Schwefelwasserstoff verwendet wird.

Pb(CH3COO)2 + H2S = PbS + CH3COOH

Dort verdrängt das “weiche” Sulfid-Ion das „harte“ Acetat-Ion unter Freisetzung von Essigsäure CH3COOH. Acetate sind die Salze der Essigsäure. Das gebildete Blei(II) sulfid färbt den Teststreifen schwarz.

Die chemischen Reaktionen in Deinen „klassischen“ Briefmarken sind nach der Bildung des braunschwarzen Blei(II)sulfides aber noch keineswegs zu Ende.

Die freigesetzte Chromsäure H2CrO4 ist nicht nur krebserzeugend, sondern auch ein starkes Oxidationsmittel und oxidiert nahezu alles, was sich oxidieren lässt. In Frage kommen:

1) Der in der Hart-PVC-Folie enthaltene Weichmacher Ölsäurestearylester
2) Der als UV-Absorber und als Fungizid fungierende Organo-Zinn-Schwefel-Komplex
3) Der blaue Farbstoff der PVC-Folie, der als optischer Aufheller dient
4) Andere Farbstoffe, die in der Druckfarbe der Briefmarken enthalten ist
5) Wenn sich gar nichts anderes Oxidierbares findet, zerstört die Chromsäure auch das Briefmarkenpapier, das im Wesentlichen aus Cellulose besteht. Es fängt dann an, langsam zu „zerbröseln“

Es läuft also folgende Reaktion ab:

2 H2CrO4 + 6 H (aus irgendeinem Reduktionsmittel) = Cr2O3 + 5 H2O

Aus der Chromsäure entsteht also als stabiles Endprodukt (tiefgrünes !!!) Chrom(III)oxid (Cr2O3) sowie Wasser (H2O).

Erst jetzt sind die Reaktionen zu Ende. Das grüne Chrom(III)oxid überlagert die Farbe des noch nicht zerstörten Chromrots, des Chromoranges und des Chromgelbs und bildet so im Wege der (subtraktiven !) Farbmischung verschiedene Brauntöne (ebenfalls Dunkelfärbung).

Wer das mal ausprobieren will, der mische im Wasserfarbkasten der Kinder oder Enkelkinder die Farbe Dunkelgrün jeweils getrennt mit Karminrot, mit Zinnoberrot, mit Orange und Orangegelb und betrachte sich die verschiedenen Brauntöne. Fügt man nun noch kräftig Braunschwarz hinzu, so erhält man das scheußliche Farbergebnis, das man von vielen Briefmarken kennt, die von uns Sammlern der „Folter“ einer Unterbringung in Hart-PVC-Folien ausgesetzt wurden.

Über die Einwirkung von Schwefelwasserstoff aus Hart-PVC-Folien auf Silbermünzen werde ich bei Gelegenheit noch einen Artikel im Münzforum schreiben.

Es sei noch darauf hingewiesen, dass wir Philatelisten mit der Bleisulfidproblematik nicht alleine stehen. Neben der Numismatik (Silbermünzen bzw. Silbersulfid) ist auch die Kunst betroffen. Vincent van Goghs Gemälde gehören heute zu den teuersten der Welt. Der niederländische Maler war aber Zeit seines Lebens arm und musste deshalb seine strahlenden Sonnenblumen und seine übrigen Gemälde mit dem billigen Chromgelb malen. Reiche Maler verwendeten das teure, ebenfalls tiefgelbe Cadmiumsulfid, das keine „Sulfid-Problematik“ zeigt, weil es bereits ein Sulfid ist. Nach der Synthese von brillanten Azofarben der Hoechst-Farbwerke im Jahr 1909 verzichteten alle Maler sehr schnell auf den Einsatz von Chromgelb und Cadmiumsulfid, denn auch Cadmium ist ein sehr giftiges Schwermetall und wer will beim Malen schon freiwillig Gift auf seiner Palette haben. Wenn Chromate eingeatmet werden, dann können sie Lungenkrebs erzeugen.

Nun dunkeln Van Goghs Gemälde in unseren Museen langsam aber sicher vor sich hin und werden nach und nach braun. Der Verlust von Millionenwerten droht. [6]

Natürlich wurden van Goghs Gemälde in den Museen niemals unter Hart-PVC-Folie der Firma X oder Y gelagert. Dort stammt der Schwefel wohl aus der Firnis, mit der van Gogh seine Gemälde samt der Farben vor Oxidation schützen wollte. Unter UV-Licht findet auch in den Gemäldefarben die beschriebene Reaktion statt. Die Bildung von grünem Chrom(III)oxid wurde röntgenspektroskopisch nachgewiesen, damit den Gemälden keine Materialprobe entnommen werden musste. [7]

Die von Dir empfohlene Polystyrol-Folie benötigt keine schwefelhaltigen UV-Absorber, weil das Pi-System der im Kunstoff enthaltenen Benzol-Ringe die vorhandene UV-Strahlung ausreichend absorbiert und so die Molekülketten vor der Strahlung schützt. „Klassische“ Marken sind deshalb dort sicher und vor allem schwefelfrei untergebracht.

Den für die Aufbewahrung von Briefmarken „ultimativ“ geeigneten Kunststoff gibt es aus meiner Sicht gar nicht, denn auch Polystyrol, Polyester (wie Polyethylenterephthalat (PET)), Polyethylen und Polypropylen haben Nachteile.

Werden neue Druckverfahren oder neue Farb-Pigmente beim Briefmarkendruck verwendet (z.B. wie 2017 (bei Mi-Nr. 3347 GAIA-Satellit) die Kombination mit dem Kaltfoliendruck), so muss immer zunächst geprüft werden, ob die Briefmarken die dauerhafte Lagerung unter Kunststofffolien „vertragen“.

Briefmarken sind meist aus Papier (von österreichischen und Schweizer Stickerei-Briefmarken und Spezialitäten aus Porzellan einmal abgesehen) und Papier sollte unter Papier gelagert werden. Deshalb habe ich bis auf wenige Ausnahmen meine Briefmarken in Alben mit Pergaminstreifen und Pergaminzwischenblättern. Sollen Briefmarken ausgestellt werden, so kann man sie vorübergehend in Klemmtaschen aus einem „verträglichen“ Kunststoff unterbringen. Welcher Kunststoff das dann ist, hängt von der jeweiligen Briefmarke ab.

Noch ein Wort zu der vor Gericht von der Gegenseite vorgebrachten Behauptung, falsche Lagerung durch Briefmarkensammler oder natürliche Alterungsprozesse in den Briefmarken seien für die beobachteten Bleisulfidschäden verantwortlich.

Natürlich gibt es auch in der bestgepflegten Küche und der bestgepflegten Toilette Fäulnisprozesse, die zur Bildung von Schwefelwasserstoff führen. Der Schwefelwasserstoff entsteht beim Abbau der beiden schwefelhaltigen Aminosäuren Cystein und Methionin (bei Methionin zunächst Methanthiol (CH3SH, auch Methylmercaptan genannt). Trotzdem kannst Du in Ruhe Dein gekochtes Frühstücksei (Schwefelwasserstoff-Quelle !) essen und den Bombay-Brief mit den orangen Mauritius-Marken auf dem Tisch liegen lassen, sofern Du Deinen Kaffee nicht darauf schüttest. Die Reaktion des Gases Schwefelwasserstoff mit dem Feststoff „Briefmarke“ läuft unvorstellbar langsam ab. Beim nächsten Lüften Deiner Wohnung entweicht der Schwefelwasserstoff ins Freie, wo er von Schwefelbakterien zu Sulfat oxidiert wird und dann den Grünen Pflanzen als Dünger dient.

Ohne „Mikroklima“ unter der Hart-PVC-Folie oder Katalysator läuft da gar nichts in messbarer Zeit (also wenigen Monaten oder Jahren) ab.

Womit wir beim Thema „Katalysator“ wären. Die Physiker haben bei der röntgenspektroskopischen Untersuchung der mit Chromgelb gemalten Van-Gogh-Gemälde das Schwermetall Barium (als Bariumsulfat, auch Schwerspat genannt ?) entdeckt. [8].

Leider sind bei Deinem (auf Seite 17 der Broschüre) gezeigten PTS-Gutachten nur Eisen, Blei, Cadmium, Mangan, Chrom, und Zink analysiert worden. Aus meiner Sicht müssen Deine 4 Muster-Briefmarken (Mustercode 1-4) und die „Diversen Albenblätter mit farblich veränderten Briefmarken (Mustercode 5) noch auf das giftige Erdalkali-Schwermetall Barium hin untersucht werden. Nur so können wir sicher ausschließen, dass das Barium in dem von Dir beschriebenen „Mikroklima“ womöglich katalytisch wirkt und die Bildung des Bleisulfids beschleunigt. Denkbar ist vieles. Das Barium könnte über intermediär unter Luftausschluss auftretendes Bariumsulfid oder Bariumpolysulfid die Übertragung des Sulfides aus der Folie in das Bleichromat der Druckfarbe beschleunigen. Ich bin bereit, mich mit einem Betrag von EUR 100,-- an einem entsprechenden Gutachten zu beteiligen.

Viele Grüße und Frohe Pfingsten
Jürgen

[1] https://www.zeit.de/online/2006/10/weichmacher
[2] https://openjur.de/u/86301.html
[3] http://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/2245.pdf
[4] https://web.archive.org/web/20140905212827/http://www.oekotest.de/cgi/index.cgi?artnr=104123&action=Z
Scrollen bis "Zinnorganische Verbindungen"
[5] http://www.chemie-im-alltag.de/articles/0049/index.html
[6] https://www.wissenschaft-aktuell.de/artikel/Vom_Gelb_zum_Braun__ndash__Warum_van_Goghs_Gemaelde_immer_dunkler_werden1771015587404.html
[7] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/ange.201305753
[8] https://pubs.acs.org/doi/10.1021/ac1025122
 
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