Thema: Briefmarkenflut, Nutzungsrückgang, Sammlerschwund - Aussichten der Philatelie
Richard Am: 21.11.2021 09:47:42 Gelesen: 7372# 1@  
Briefmarkenflut, Nutzungsrückgang, Sammlerschwund - Aussichten für die Philatelie

Von Dr. Georg Gärtner, Aachen (6.4.2021)

1. Einleitung: Meine drei Phasen des Briefmarkensammelns

Meine eigene Briefmarkengeschichte lief in drei Phasen ab: als Junge hatte ich zwei alte Briefmarkenalben von meinem Vater und von meinem im Krieg gefallenen Onkel bekommen, die aber zum Teil schon geplündert waren. Ein älterer Nachbarjunge war ein begeisterter Sammler, der auch gern zum Besichtigen seiner Sammlung einlud. Ich fing dann auch mit einem Einsteckalbum an und begann, Marken von älteren Postkarten und Briefen abzulösen, (was ich heute nicht mehr tun würde) und ich begann, mit diesem und anderen Nachbarjungen zu tauschen. Den größten Schub bekam dann meine Sammlung, als ich in der benachbarten Kleinstadt aufs Gymnasium ging und in einem Briefmarkengeschäft am Schulweg 3000 Briefmarken "Alle Welt" für 25 DM kaufte und meinen Konkurrenten mit einem Schlag überholte. Bald geriet dieses Hobby aber in Vergessenheit und machte sich erst wieder bemerkbar, als ich die Briefe an die Angebetete auch mit ausgesuchten Sondermarken frankierte und umgekehrt auch solche Briefe bekam, auch aus USA. Diese Marken habe ich dann nicht mehr abgelöst. Die 2. Phase des wiederentdeckten Sammelns begann dann kurz vor der Promotion, wahrscheinlich war es der Effekt der Beruhigung. Mit Beginn meiner Berufstätigkeit in Aachen setzte sich dann das Hobby fort und ich besuchte auch erstmals die Tauschtreffen. Mit den höheren Anforderungen durch Familie, Kinder und Beruf änderten sich die Prioritäten und das Hobby mutierte zu einem Abonnement bei der Deutschen Post und bei der Österreichischen Post mit dem Zusatz, dass ich jeden Monat bei Neuerscheinungen auf der Post war und Briefe mit Ersttags-Stempelung verschickte. Seit 1983 hatte ich auch einen Briefmarkentauschpartner in der DDR in Gera, und wir schickten uns gegenseitig die Neuigkeiten zu. Ich wollte vor allem komplett bleiben. Leider ist es bei den Briefmarkenabos bei der Post nicht geblieben, es kamen dann die Ersttagsblätter, die Numisblätter, die Jahrbücher und die Deutschland-Plus Sammlung dazu. Da ich als Wissenschaftler in der Philips Forschung ganz gut verdiente, taten mir diese Post-Machwerke und Abos nicht weh, es sah ja alles ganz edel aus. Erst als 2004/2005 eine schlimmere Erkrankung überstehen musste, setzte der Schrumpfungsprozess ein und ich kündigte als erstes mein Österreich-Abo. Heute beziehe ich nur noch selbstklebende Marken, Dauerserienmarken aus Bögen und Blocks im Abonnement von der Deutschen Post. Das ist jetzt auch typisch für meine 3. Phase des Briefmarkensammelns: Als Rentner entdeckte ich 2015 auf Tauschtreffen das wahre Sammeln wieder und ich sah, wie wertlos all die Machwerke der Post waren. Seither bin ich auch Mitglied bei den Briefmarkenfreunden Aachen 1890 e.V. und gehöre damit auch erstmals zu den organisierten Sammlern im Bund Deutscher Philatelisten (=BDPh). Der starke Rückgang der Zahl der aktiven Sammler hatte (und hat) für mich die positive Seite, dass ganze Sammlungen jetzt sehr erschwinglich wurden, natürlich sehr positiv z.B. für meine Altdeutschland Sammlung. Mit Südwestafrika-Namibia fing ich auch mit einem neuen Sammelgebiet an, nachdem wir 2013 dort einen sehr schönen Urlaub verbracht hatten, und fand dort auch lokale Tauschpartner. Meine Begeisterung für das Briefmarkensammeln ist also ungebrochen, trotz des Gesamtabschwungs der Philatelie. Ich bin trotz allem der Überzeugung, dass sich die Philatelie auch in Zukunft einen Nischenplatz sichern wird und sich weitgehend von der Ausgabenpolitik der Postverwaltungen abkoppeln wird.

2. Entwicklung der Philatelie nach 1945 und Sammlerschwund seit 2000

Und damit komme ich endlich zu meinem Hauptthema, nämlich der Entwicklung der Philatelie nach dem 2.Weltkrieg und ihren Zukunftsperspektiven. Ich beginne dabei mit dem letzten Punkt, nämlich dem Sammlerschwund. Für einen schnellen Überblick sind dabei Zahlen und Diagramme recht hilfreich. Natürlich gibt es keine Statistiken über die Gesamtzahl der Briefmarkensammler als Funktion der Zeit. Aber es gibt Daten über die Zahl der organisierten Sammler z.B. im BDPh oder über die Zahl der Abonnenten bei der Deutschen Post. Natürlich gibt es auch genaue Daten über die Zahl der Markenausgaben und ihren jeweiligen Auflagen. Eine Auswertung solcher Zahlen kann auch für zukünftige Perspektiven nützlich sein. Abb. 1 zeigt die zeitliche Entwicklung der Mitgliederzahl des BDPh, basierend auf Daten aus dem Jubiläumsband von 1996 [1], auf Daten aus der Archiv Edition "Philatelie" [2], auf vom BDPh mitgeteilten Daten (Hr. Krämer), und auf Daten im Internet [3]. Die Ermittlung dieser Daten war jedoch nicht einfach, mit Ausnahme des größten Landesverbandes Südwest, der seit Beginn eine komplette Liste der Mitgliederzahlen mit Stichdatum Jahresende führt. Der Landesverband NRW (ohne Regierungsbezirk Köln) hat nur den Anstieg der frühen Jahre punktuell dokumentiert, ebenso der Landesverband Bayern. Beim BDPh selbst konnten viele Zahlen dem Buch von W.J. Pelikan zum 50 jährigen Jubiläum des BDPh [1] entnommen werden. Hierzu muss jedoch angemerkt werden, dass die Gesamtstimmenzahlen auf den Bundestagen des BDPh zwar ein gutes Maß darstellen (bezahlte Beiträge!), darin aber die nicht stimmberechtigte Jugendorganisation DPhJ (=Deutsche Philatelisten-Jugend) nicht enthalten ist (siehe §3 der Satzung von 1959 und von 1995), ab 1980 aber bei der Gesamtzahl immer mitgezählt wird. Daher gibt es öfter eine Doppeldeutigkeit der Angaben, die ich dadurch beseitigt habe, dass die Mitgliederzahl ohne und mit DPhJ dargestellt wurde [1,2,3]. Spätestens seit 2009 ist auch die Jugendorganisation DPhJ stimmberechtigt. Auch die Anfangszahlen sind nicht eindeutig, da es bei vielen Vereinen und Landesverbänden Diskussionen über Beitritt oder nicht oder säumige Beitragszahlungen gab. Die Anfangszahlen für den BDPh und die beteiligten Landesverbände sind in den ersten Jahren nicht konsistent; u.a. ging der erste Landesverband NRW (ohne Reg. Bezirk Köln) in Konkurs und musste sich 1949 neu konstituieren. Nach der ersten Gründung des BDPh in der britischen Zone 1946 erfolgte der Zusammenschluss aller drei Zonen auf dem Bundestag 1949 in München. Von nun an ging es bergauf. Da der mitgliederstärkste Landesverband Südwest seine Mitgliederzahl pro Jahr komplett dokumentiert hat, wurde er auch in die Abb. 1 zum Vergleich mit aufgenommen [4].

Es sollte hier noch angemerkt werden, dass seit etwa 2000 viele Landesverbände ihre Mitgliederzahlen in ihren Mitteilungsheften veröffentlichen, neben Bayern und NRW u.a. auch unser Verband Mittelrhein (siehe LV Info, Jahreschronik), der in 2020 1426 Mitglieder in 48 Vereinen hatte [5]. Die Landesverbände sind zum Teil auch nicht mit den Bundesländern identisch. So umfasst unser Landesverband Mittelrhein den Regierungsbezirk Köln mit dem ehemaligen Regierungsbezirk Aachen und die ehemaligen Regierungsbezirke von Rheinland-Pfalz Trier, Koblenz und Montabaur. Trotz des allgemeinen Abschwungs blieb die Mitgliederzahl der Briefmarkenfreunde Aachen 1890 e.V. erfreulicherweise recht konstant und schwankte von 2011 bis 2020 im Bereich zwischen 90 und 95 [5]. Der Abwärtstrend manifestiert sich auch eher in der Verringerung der Anzahl der Vereine, die irgendwann in ihrer Mitgliederzahl unterkritisch werden.

Typisch bei Abb. 1 ist dabei ein starker Anstieg in den Nachkriegsjahren bis etwa 1980, danach ein Plateau mit einem Maximum nach der Wiedervereinigung und der Beginn des Abstiegs etwa im Jahr 2000.



Abb. 1: Entwicklung der Mitgliederzahl des BDPh mit und ohne DPhJ, sowie des mitgliederstärksten Verbandes Südwest (SW) zum Vergleich, als Funktion der Zeit; Daten basierend auf [1-4]. Copyright Dr. Georg Gärtner, Aachen, 2021

Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Briefmarkensammler im Kulturbund der DDR im Jahre 1989 noch 56 677 Mitglieder (1949: 10500 Mitglieder) umfassten, wobei das auch ein mehr systembedingter Organisationszwang war [1]. Daraus rekrutierten sich in den neugegründeten 5 Landesverbänden jedoch nur ca. 5000 BDPh Neumitglieder in 1990. Seit 2008 können wir eine beschleunigte Abnahme beobachten. Dazu passt auch, dass das Durchschnittsalter der organisierten Sammler 2014 bei 67 Jahren lag, in der Regel also ältere Männer im Rentenalter. Ich gehe dennoch nicht davon aus, dass sich die Abnahme bis auf null fortsetzt, sondern sich bei etwa 8000 Mitgliedern stabilisieren wird. Es ist zu erwarten, dass sich dann die Jugendarbeit in den 1980er und 1990er Jahren auszahlen wird. Natürlich wird die weitere Abnahme zu größeren Umorganisationen beim BDPh führen müssen, z.B. durch Zusammenlegung von Landesverbänden, wie es in Mitteldeutschland schon passiert ist, und durch Reduzierung der Organisationskosten. Eventuell müssen sich auch benachbarte Ortsvereine zusammen-schließen. Die Abnahme bei den organisierten Philatelisten lässt sich auch in anderen Ländern beobachten, so in der Schweiz ein Rückgang von 20000 in 1993 auf ca. 11000 in 2002. Die 1886 gegründete American Philatelic Society hatte 1991 57000 Mitglieder und nur noch 28000 in 2018 [6].

Wie sieht das nun bei der Gesamtzahl der Briefmarkensammler/innen* in Deutschland aus. (*Im Folgenden werde ich die männliche Form benutzen, auch vor dem Hintergrund, dass der Anteil der Sammlerinnen etwa im Bereich von 5% liegt - auch hier gibt es Wachstumspotential). Hier bleibt nur die Möglichkeit, deren Gesamtzahl abzuschätzen, und dabei ist als Anhaltspunkt auch die Zahl der organisierten Sammler hilfreich. Zunächst wäre noch zu klären, wie man Briefmarkensammler definieren soll. Es reicht sicher nicht, wenn er(sie) ein mehr oder weniger gefülltes Briefmarkenalbum besitzt. Das haben meine Söhne auch von mir bekommen, der eine eine Motivsammlung Mineralien passend zu seinem Studium, und der andere eine Motivsammlung Weltraum zusätzlich zu einer Anfangssammlung BRD. Aber bei beiden hat das leider nicht zu einer Fortsetzung geführt. Von daher würde ich einen Briefmarkensammler darüber definieren wollen, dass er über mehrere Jahre (z.B. > 5) Marken sammelt, sich auf seinen Gebieten informiert, die Marken nach bestimmten Gesichtspunkten ordnet und einsortiert und mehrere (> 3) gut gefüllte Alben vorweisen kann. Das mag eine subjektive Definition sein, über die man sich streiten kann, sie vermeidet jedoch, Albumbesitzer unter Sammler einzureihen. Zur Abschätzung der Anzahl der Sammler gibt es mehrere Aussagen, so von 1987 aus "Philatelie": "die Zahl der organisierten Philatelisten liegt unter 100 000, aber es gibt 2-3 Millionen Briefmarkensammler in Deutschland" [2]. Weiterhin eine Aussage aus dem Jahr 2000, dass nur 4% der Sammler organisiert seien; dazu bemerkte auch der Händler Jakubek, dass 90 % der Kunden nichts von Philatelie verstehen. Nimmt man die 4% als Richtschnur, so sollte es in Deutschland derzeit immerhin noch 570000 Sammler geben. Für den BDPh könnte sich dann die Aufgabe ergeben, diesen Kreis stärker anzusprechen und z.B. in der Verbandszeitschrift nicht nur der mehr wissenschaftlichen Philatelie, wie sie von den Prüfern und von den Arbeitsgemeinschaften (Argen) gepflegt wird, Raum zu geben, sondern auch den normalen Sammler anzusprechen. Der hat in sehr vielen Fällen noch nie bei einer Ausstellung mitgemacht und dort Preise abgesahnt, war möglicherweise noch nie auf einer Briefmarkenmesse oder hat an keiner Auktion teilgenommen. Vielleicht gibt es über das Internet auch andere Formen der Beteiligung, wie z.B. auf den Philaseiten über Chatgruppen, oder virtuelle Ausstellungen und Messen in Zeiten von Corona. Vielleicht sollte der BDPh über das Internet eine Mitgliedschaft "light" einführen. Offensichtlich ist auch die Zahl der Abonnenten bei der Deutschen Post von der Blütezeit der Philatelie mit 800 000 Abonnenten 1987 ausgehend auf ca. 700 000 in 2006 und ca. 450 000 im Jahr 2014 zurückgegangen und beträgt ca. 10 mal die Zahl der organisierten Sammler, was sich in etwa mit der obigen Aussage von Jakubek deckt [2].

3. Steigende Zahl der Briefmarken-Neuerscheinungen

Wenden wir uns nun dem ersten Punkt zu, der steigenden Anzahl der Briefmarken-Neuerscheinungen. Dazu sind in Abb. 2 stellvertretend für die steigende Ausgabenflut vieler Länder die Gesamtzahl der bis dahin erschienen Ausgaben als Funktion der Zeit für die USA und die BRD dargestellt [7]. Zwar bleibt die Zunahme bei der BRD deutlich geringer, aber man könnte das eventuell mit der größeren Bevölkerungszahl der USA rechtfertigen. Dass dieses Argument dennoch nicht zieht, erkennt man, wenn man Kanada mit den USA vergleicht, wobei Kanada noch deutlich mehr neue Marken pro Jahr als die USA herausgibt. Das ist dann auch mit entsprechend hohen Kosten für den Sammler für die Gesamtausgaben eines Jahres verbunden, weil zusätzlich auch das Porto mit den Jahren stieg. Dabei soll noch angemerkt werden, dass bei einer Reihe von Marken inzwischen auch die Wertangabe durch die Portoklasse ersetzt wurde (1994 bei USA erstmals Klasse G, ab 2000 "first class") und seit 2010 gibt es auch USA-Briefmarken ohne Wertangabe; dies hat für die dortige Post den Vorteil, gleitende Preissteigerungen durchzuführen.



Abb. 2: Insgesamt erschienene Briefmarkenausgaben als Funktion der Zeit für USA und BRD; Daten nach [7]; daneben als weiterer Trend die Erhöhung des Standardbrief-Inlandsbriefportos, was eine weitere Verteuerung bewirkt. Copyright Dr. Georg Gärtner, Aachen, 2021

Da ein absoluter Vergleich zwischen verschiedenen Ländern nicht so aussagekräftig ist, ist ein relatives Maß für die Ausgabenflut und Verteuerung der Gesamtpreis der Neuemissionen (Markennominalen) pro Jahr geteilt durch das Porto (den Preis) für einen Standard-Inlandsbrief (=StP). So ergibt sich für Deutschland für 2018 ein Faktor 118,77 x Standardinlandsbriefporto (0,70 €) inklusive Wohlfahrts-Zuschläge und ohne Automatenmarken, für die USA ergibt sich 2017 ein Faktor 196,31 x Inlandsporto (49 cent bis 28 g) und für Kanada sogar ein Faktor 255 x StP (= 85 kan. cent). Die inflationäre Ausgabenpolitik kannte man bisher nur von einigen kleineren Staaten und den früheren Ostblockstaaten, die insbesondere über viele bunte Motivmarken Einnahmen über die Motivsammler generieren wollten. So rügte ausgerechnet Albertino de Figueiredo*, der Gründer der spanischen AFINSA* Gruppe, 2004, dass z.B. "eine Welt-Neuausgabenzahl von 13879 Marken und Blocks im Jahr 2001 <a true nightmare> (ein echter Alptraum) sei, denn Millionen von Dollars würden für Marken ohne jeden praktischen Nutzen ausgegeben" [2]. Schon in den 1970er Jahren hatte die APS in ihrer Monatsschrift eine schwarze Liste ("black plot") geführt, in der Marken von neuen unabhängigen Staaten gelistet wurden, die als überteuert oder überflüssig beurteilt wurden, da Kleinstaaten mit nur wenigen Postämtern sicher keine 100 Neuerscheinungen mit nicht einheimischen Motiven benötigen [6]. Nach Protesten von Sammlern wurde das wieder eingestellt. Zum Vergleich gab es in der BRD 1958 nur 10 neue Marken im Gesamtwert von 3,71 DM inklusive Zuschläge, also ein Faktor 18,6 x StP (= 0,20 DM).

*Anmerkung: Diese AFINSA Gruppe ging in einem der größten Briefmarken-Betrugsfälle nach Beginn der Ermittlungen 2006 und einem Defizit von 2,57 Mrd € bankrott. Der Prozess dauerte über 10 Jahre bis 2016 und befasste sich mit dem Betrug an mehr als 190 000 meist spanischen Kleinanlegern mittels eines Schneeballsystems, bei dem völlig überbewertete Briefmarken als Sicherheiten hinterlegt wurden. 11 Angeklagte, darunter auch der obengenannte de Figueiredo, wurden zu teils mehrjährigen Haftstrafen und der Zahlung von 2,57 Mrd. € an die Geschädigten verurteilt. Der Skandal brachte 2006 den europäischen Briefmarkenmarkt gehörig ins Wanken, aber die Briefmarken hatten auch den Betrug ans Licht gebracht [2: phi. 348, 2006].

4. Nutzungsrückgang bei Briefmarken

Jedem Sammler ist inzwischen bewusst, dass das Versenden von Briefen per Post massive Konkurrenz durch das Internet, vor allem durch Emails bekommen hat. Außerdem werden die meisten Sendungen nicht mehr mit Briefmarken frankiert. Seit 1920 gibt es ja schon die Absenderfreistempel, die natürlich bei Werbesendungen dominieren; es gibt inzwischen online-Frankierungen und Frankierungen über Codes im Sichtfenster, wobei der Umschlag unbedruckt bleibt, und es gibt Konkurrenz durch private Postdienstleister. Auch die Serienmarken und Sondermarken haben Konkurrenz durch Automatenmarken und Privatbriefmarken bekommen. Im Folgenden werde ich versuchen, den noch verbleibenden Anteil von mit Briefmarken frankierten Sendungen zu quantifizieren und zeitliche Änderungen festzustellen. Abb. 3 zeigt die Zahl der Inlandssendungen pro Jahr (in Milliarden Sendungen) für alle Länder insgesamt weltweit (Daten der UPU) als Funktion der Zeit (rote Kurve) [9,10]. Daneben sind auch die Inlandssendungen pro Jahr in Deutschland zum Vergleich (violette Kurve, in Milliarden Sendungen) eingetragen [8]. Man beachte, dass beide vertikale Skalen einen Offset haben: die rechte Skala für die BRD startet bei 10 Mrd. Sendungen, die linke (Welt insgesamt) startet bei 200 Mrd. Sendungen. Insgesamt liegt die Anzahl auf einem sehr hohen Niveau, aber dennoch beobachtet man auch hier nach 2006 einen Abwärtstrend. Den größten Anteil bei den Inlandssendungen weltweit hat dabei die USA mit 213 Mrd. in 2006, 160 Mrd. in 2012 und 142,1 Mrd. in 2017, im Vergleich zur Deutschen Post mit 18,46 Mrd. Inlands-Briefsendungen 2017. Diese Zahlen liegen dabei deutlich höher als z.B. die Inlandssendungen im Deutschen Reich 1894 mit 3,152 Milliarden Briefen oder 1970 in der BRD mit 9,64 Mrd. (dazu 1,54 Mrd. Massendrucksachen, 0,28 Mrd. Wurfsendungen und 0,32 Mrd. Päckchen).

Bei der Deutschen Post sah die Mengenaufteilung in 2010 bei ca. 20 Milliarden Inlands-Briefsendungen insgesamt folgendermaßen aus: 7,2 % private Briefpost, 46,6 % geschäftliche Briefsendungen an Unternehmen und an private Kunden, 35,5 % Werbesendungen und 10,7 % Pressesendungen [8]. Der Anteil der privaten Post schrumpfte dabei von 16 % 2001 über 14 % 2008 auf 6 % in 2012 (1,175 Mrd. Sendungen) und liegt zur Zeit bei 4-5 % [8]. Vergleicht man die Auflagenzahl der neuerschienenen Briefmarken 2010 (ca. 1,8 Mrd insgesamt) mit dem privaten Briefaufkommen und einem gewissen Anteil von Firmenbriefen (z.B. Handwerker und andere Selbständige), so liegen die doch in derselben Größenordnung. Bei den Auflagenzahlen einzelner Briefmarken (67 in 2010) muss man noch berücksichtigen, dass diese stark variieren können (von Auflagen von 1 Million Stück bei z.B. Zuschlagsmarken bis zu 378 Millionen bei der selbstklebenden Variante der Honigbiene in 2010) [7]. Bei diesen Zahlen wird man sicher nicht behaupten können, dass es nicht genug sammelwürdiges Material gäbe.-

Zum Vergleich einige Zahlen zur elektronischen Kommunikation: so wurden in Deutschland 2015 22 Mrd. SMS (inzwischen mit abnehmender Tendenz) und 600 Mrd. Emails verschickt, was aber die Zahl der Briefe nicht in vergleichbarem Maße zum Anstieg der elektronischen Kommunikation reduziert hat [8].



Abb. 3: Inlandssendungen pro Jahr insgesamt in Milliarden Stück für die gesamte Welt (UPU Daten) als Funktion der Zeit (rote Kurve) und Inlandssendungen in Deutschland zum Vergleich (violette Kurve); Daten basierend auf [8-10]. Copyright Dr. Georg Gärtner, Aachen 2021

5. Fazit und Ausblick:

Bezüglich der drei Punkte im Titel haben wir gesehen, dass der aktuelle Sammlerschwund zumindest im organisierten Bereich dramatisch ist, die Briefmarkenflut und die steigenden Kosten pro Jahr es schwieriger machen, eine Sammlung komplett zu halten, der Nutzungsrückgang von Briefmarken sich jedoch auf einem hohen Niveau abspielt und die Menge an Briefmarken-Sammelobjekten mit der Zeit eher quadratisch ansteigt. Dennoch wird der einzelne Sammler sagen, was stört es mich, mir macht das Sammeln Spaß, ich werde deswegen nicht aufhören. Eine Reihe von Sammlern sammelt z.B. nur noch bis zum Jahre 2000 oder 2002; andere werden sich sagen, warum soll ich Briefmarken ohne Wertangabe sammeln? Manche konzentrieren sich auf abgeschlossene Sammelgebiete. Davon gibt es insbesondere im deutschen Raum viele, bedingt durch viele historische Brüche und Wechsel in Mitteleuropa, was sehr interessante Sammelgebiete beinhaltet.

Wo geht es in Zukunft hin: Ein fundiertes Scenario hat Wolfgang Maassen in einer Rede zum 75jährigen Jubiläum des Briefmarken-Sammler-Vereins Bad Godesberg zum Thema "Philatelie im Jahre 2039" beschrieben, die in dem Artikel " Die Zukunft der Philatelie - Ausblicke auf die nächsten 25 Jahre" in Phila Historica 4/2014 [11] zu finden ist. In seinem Scenario schrumpft die Philatelie auf das Maß wie vor 100 Jahren. Auch er geht von einer Größe des BDPh von 5000 - 10000 Mitgliedern aus und möglicherweise nur noch 4 zusammengelegten Landesverbänden. Wegen der veränderten Kommunikation über das Internet wird die Organisation in Vereinen weiter abnehmen und es wird mehr Sammler geben, die über das Internet Briefmarken anbieten und erwerben. Statt gedruckter Philatelie-Zeitschriften wird es wahrscheinlich nur noch elektronische geben. Exponate könnten m. E. durch Poster (auch vergrößert) ersetzt werden, wodurch das Versicherungsproblem entfällt, und sie könnten auch virtuell präsentiert werden. Er bezweifelt auch, dass in 20 Jahren die Michel-Kataloge noch weitergeführt werden. Maassen sieht daneben aber einen Trend hin zu mehr Qualität und Erlebniswert auch in einer teureren Clubatmosphäre und zu einer Nische der Philatelie im Antiquitätenhandel [11].- Zur Werbung für die Philatelie sollte man m. E. auch neue Wege gehen, z.B. ein Briefmarkenmuseum mit Erlebnischarakter, mit einem "Briefmarkencafé" und einem angeschlossenen Sammlershop? Viele von Ihnen kennen wahrscheinlich das "Kriminalhaus" in Hillesheim. Wen wundert es in diesem Zusammenhang, dass ich ausgerechnet an ein Museum dachte? Ein "Stamp museum" gibt es auch bei den Simpsons (seit 2005!), und bei uns z.B. real in Bad Bentheim und weiterhin leider nur als Teil der Museen für Kommunikation in Frankfurt, Berlin und Nürnberg. Im Internet gibt es z.B. eines unter https://www.briefmarken-museum.ch/ [12]. Ich bin dennoch sicher, die Faszination des Briefmarkensammelns wird auch in Zukunft ihre Anhänger finden.

An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Konrad Krämer für Informationen zum BDPh und bei Herrn Wilhelm van Loo für Literaturhinweise und Übersendung von [11] bedanken, sowie bei Herrn Heinz Kaußen für weitere Hinweise.

Literaturhinweise:

[1] Wolf J. Pelikan, "Aufgebaut aus den Ruinen - 50 Jahre Bund Deutscher Philatelisten 1946 - 1996", Phil*Creativ GmbH, Schwalmtal 1996
[2] Archiv-Edition „philatelie“ 1948 - 2020 - Update 2020 (auf Memory Stick)
[3] https://www.bdph.de/index.php?id=22
[4] http://www.briefmarken-suedwest.de/ und SWA-277-SuedwestAktuell-2020-03__www_Briefmarken-Suedwest_de
[5] http://www.phvm.de/ und http://www.phvm.de/LVINFO/194/LV-Info%20194.pdf
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/American_Philatelic_Society
[7] Michel: Deutschland Katalog 2014/15, und Vereinigte Staaten von Nordamerika 2018
[8] https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Mediathek/Taetigkeitsberichte/2019/
Post_20182019.pdf?__blob=publicationFile&v=7
[9] https://www.wik.org/fileadmin/Konferenzbeitraege/2019/18th_Koenigswinter_Seminar/S1_1_Somasundram_Hamande.pdf
[10] https://www.upu.int/UPU/media/upu/publications/postalEconomicOutlook2019En.pdf
[11] Wolfgang Maassen , "Die Zukunft der Philatelie - Ausblicke auf die nächsten 25 Jahre"
in Phila Historica 4/2014, https://philahistorica.de/Dokumente/
[12] https://www.briefmarken-museum.ch/


Der Artikel von Dr. Georg Gärtner wurde erstmals im Juniheft 2021 der "philatelie"  unter dem Titel "Markenflut & Sammlerschwund: Die Aussichten für die Philatelie" publiziert (Seiten 8, 10, 12, 13, 16).

Er erschien ausserdem in der neuesten Ausgabe von "Phila Historica", in "The Philatelic Journalist" und im APHV Magazin. Eine englische Version ist für die nächste Ausgabe des "Philatelic Journalist" vorgesehen.
 
Quelle: www.philaseiten.de
https://www.philaseiten.de/thema/16469
https://www.philaseiten.de/beitrag/281468