Thema: Briefmarkenflut, Nutzungsrückgang, Sammlerschwund - Aussichten der Philatelie
Heinz 7 Am: 26.11.2021 13:21:40 Gelesen: 5078# 34@  
@ Richard [#1]

Die von Dr. Gärtner zusammengetragen Informationen sind hilfreich und seine Schlussfolgerungen und Thesen aus meiner Sicht schlüssig.

Zu der von ihm festgestellten steigenden Zahl der Briefmarken-Neuerscheinungen möchte ich anmerken:

a) diese Feststellung ist in den philatelistischen Fachzeitschriften eine der festen Konstanten - seit vermutlich 150 Jahren! Doch die Aufrufe zur Mässigung brachten zwar hier und dort ermutigende Verbesserungen bei einzelnen Ländern, die aber - so scheint es - durch andere Gebiete wieder zunichte gemacht wurden. Zu meinem "ersten" Sammelgebiet Rumänien habe ich hierzu eine Studie gemacht, die ich an anderem Orte gerne publik mache. Soviel vorweg: auch für Rumänien muss der Neuerscheinungen-Sammler seit einigen Jahren massiv tiefer in die Tasche greifen, als noch im 20. Jahrhundert, obwohl Rumänien schon viele Jahrzehnte lang eine hohe Zahl an Neuausgaben verzeichnet.

b) es ist in der Tat schwierig für die grossen Massen von "Katalog-Sammlungen" (moderne Komplettsammlungen) immer wieder neue Sammler zu finden. Dies zeigt sich vor allem auf dem Markt: weil hier gilt: Angebot > Nachfrage, fallen viele Preise für "Katalog-Sammlungen" (moderne Komplettsammlungen) weiter.

Der "Nutzungsrückgang bei Briefmarken" muss meines Erachtens nicht unbedingt zu einer Krise des Sammelns führen. Es kann sogar dem Sammeln dienlich sein, wenn gewisse Verwendungen nicht mehr häufig erfolgen. So ist es heute mit Sicherheit schwieriger, eine Bedarfsverwendung vieler Briefmarken zu finden, als vor 40 Jahren.

Der "Sammlerschwund in den Vereinen" ist nicht zu leugnen und sicherlich bedauerlich, doch hat dieser seine Ursache auch in dem "Hype" der Jahre 1960-1980, als unzählige Sammler sich für Vereinsmitgliedschaften entschlossen. Die "Briefmarke als Wertpapier", als "Aktie des kleinen Mannes" befeuerte die Motivation, einen nicht unbeträchtlichen Betrag in Briefmarken zu investieren. Einige Vereinsmitglieder betrachteten ihre Bestände von Postfrisch- und ET-Viererblöcken (oder -Ganzbogen!) gar als "Altersvorsorge". - Mit fatalen Folgen. - Es gibt wohl keine unangenehmere Aufgabe für viele Vereinspräsidenten, als den trauernden Witwen von Vereinsmitgliedern erklären zu müssen, dass die Briefmarken, die zuvor für CHF 100'000 eingekauft wurden, heute nahezu als "Non-valeur" gelten.

Nun Antworten auf deine Fragen:

I. Können wir die beschriebenen oder vermuteten Zukunftsperspektiven beeinflussen und auf welche Weise oder sind sie weitgehend (fast ausschliesslich) unabänderlich ?

Die Megatrends können wir kaum umkehren und nüchterne Analysen helfen uns, vernünftig zu reagieren.

II. Hatten und haben die philatelistischen Foren und Datenbanken im Internet einen Einfluss auf (a) die Zahl der Sammler und besonders (b) die Zahl der organisierten Mitglieder und warum ?

Die philatelistischen Foren und Datenbanken haben meines Erachtens einen sehr positiven Einfluss auf das Interesse von Sammlern. Es ist heute problemlos möglich, sein Hobby gemütlich von zuhause aus zu betreiben - eine Entwicklung, die durch die Corona-Pandemie noch verstärkt wurde. Viele Auktionshäuser haben die Online-Beteiligungen vereinfacht und einige Vereine ihre Vorträge als Video-Konferenzen organisiert.

Für die organisierten Mitglieder sieht die Situation meines Erachtens aber deutlich schwieriger aus. Wenn die Vereine "wegsterben" (um das drastisch auszudrücken), werden auch die Auswirkungen auf die Phila-Szene gesamthaft spürbar negativ ausfallen. Wer organisiert noch Grosstauschtage? Wettbewerbs-Ausstellungen? - - Der Erhaltung von Vereinen und Verbänden ist darum höchste Beachtung zu schenken.

III. Wie wird die künftige Zahl der BDPh Vereine in Deutschland, der Schweiz und Österreich gesehen? Seit Jahrzehnten gibt es keine Neugründungen mehr.

Die Zahl der Vereine wird drastisch abnehmen. Es wird eine "Konsolidierung" stattfinden. Aber Pessimismus generell ist nicht angezeigt. Die Philatelie ist so faszinierend und entspricht dem menschlichen Wesen perfekt (forschen, sammeln, zeigen...), sie wird nie untergehen. Aber die festen Strukturen werden durch flexiblere (teilweise) ersetzt. Private Interessenten ersetzen öffentlich organisierte. Vermögende Sammler gründen Stiftungen, welche manche Funktionen übernehmen, die früher bei den Vereinen lagen. - Eine Koordination aber wird schwierig sein.

Vor allem aber sollte meines Erachtens dem persönlichen Zusammentreffen der Philatelisten Sorge getragen werden. Viele Vereine boten ihren Mitgliedern unersetzliche soziale Kontakte - wie diese "gerettet" bzw. ersetzt werden können (wenn die Ortsvereine aufgeben) ist eine ernst zu nehmende Frage.

Heinz
 
Quelle: www.philaseiten.de
https://www.philaseiten.de/thema/16469
https://www.philaseiten.de/beitrag/281927