Thema: Abenteuer auf der Reise – Auge in Auge mit der örtlichen Postverwaltung
Bendix Gruenlich Am: 27.03.2022 22:34:51 Gelesen: 7165# 21@  
Dann schaue ich mal in das Jahr 2014 zurück. Ich wollte nach Weißrussland, die haben seinerzeit die Eishockey-WM ausgerichtet, und das war die einmalige (!) Gelegenheit mit einer Eishockeyeintrittskarte (für EUR 6,--, und zwar zum Spiel Deutschland vs. Kasachstan am 10.05.) visafrei und ohne bizarre bürokratische Prozeduren einzureisen.

Bei der Gelegenheit habe ich darüber gegrübelt, wie man am besten da einreist. Und siehe da, ab Dortmund (100 km von mir weg) konnte man mittels Wizz-Air direkt nach Kiew in die Ukraine fliegen. Das war nah dran und eine prima Gelegenheit die dortige Hauptpost zu plündern, so dachte ich.

Als ich am Flughafen ankam, wurde mir klar, dass ich ab hier „lost in translation“ sein werde, denn Englisch sprach kaum jemand. Also galt es mit 100 Vokabeln und einem auswendig gelernten kyrillischen Alphabet durch die Sowjetunion-Nachfolgestaaten zu touren. Dawaitsche!

Das ging schon beim Zoll los, ich hatte ein Fahrrad im Karton mit, das erregte Aufmerksamkeit. Der Taxi-Fahrer war ebenfalls nicht auf internationalen Besuch eingestellt. Aber natürlich, irgendwie geht das immer.

Auch auf der Post auf dem Maidan (die Maidan-Revolution war erst drei Monate her, es stand noch alles voll Barrikaden, irgendwelche uniformierten Gruppierungen standen noch wegen Spenden herum), hat die resolute (wie sind in der Ex-SU) Vorsteherin der Hauptpost mir zwar das verschafft, was ich wollte (Marken für Postkarten nach Deutschland), aber leider keine Sondermarken.

Eine Marke habe ich noch übrig und die ist noch immer gültig. Sie repräsentiert USD 0,70 (Auslandstarife werden in USD bepreist und zum Tageskurs abgerechnet).



Ich fuhr gegen die Zeit und wollte auch - wenn möglich - am 10.05. tatsächlich in Minsk sein, da wollte ich nicht zwei Tage verlieren, um die Öffnung des Philatelieschalters abzuwarten.

Also aufsitzen (auf den Fahrradsattel) und los! Die prestigeträchtigste Straße (und auch die optimalste Distanz) ging über die P02 an Tschnernobyl (Atomkraftwerkhavarie) vorbei. Ich habe mich im Hotel erkundigt, ob die Straße frei wäre. Das wurde bestätigt. Also bei bestem Wetter raus aus Kiew, hinein in die ukrainische Provinz, Atmosphäre schnuppern. Als ich aus Kiew raus war, wurde klar, mit Unterkünften wird das nicht einfach. Und dann zog es mich Kilometer um Kilometer in die Etappe hinein. Je weiter man vordrang, desto ländlicher und spärlicher besiedelt wurde es, aber auf Tour gilt: kein zurück.

Bei örtlichen „Produkty“ habe ich mich versorgt, da wurde kopekengenau herausgegeben, und dem schien auch ein wirtschaftlicher Wert beigemessen zu werden. Den „Fremden“ hat man mir angesehen und vor allem angehört. Irgendwie begegnete man ihm dabei mit einer gewissen Distanz, einer Art Schock, ein Stirnrunzeln, dass man nicht das örtliche Idiom sprach. Dabei stärker bei Frauen feststellbar als bei Männern, interessant. Aber so macht man das halt, man wirft sich ins Alltagsleben im fremden Land und irgendwie gehts immer. Da sind dann beide Seiten, so meine Wahrnehmung, hinterher positiv überrascht.

Nachdem ich in Iwanow, als einzige Herberge eine kleine Zimmervermietung neben einer Tankstelle gesehen hatte, beschloss ich einfach weiterzufahren.
Dann kam es wie es kommen musste: 40 km nach der letzten kleinen Stadt tauschte eine Schranke, ein Gebäude und eine schwer bewaffnete Wachmannschaft auf. Die Schranke war geschlossen!

Kein Durchkommen ohne Sonderausweis. Einer aus der Mannschaft sprach ein paar Worte Englisch, die Dienstgerade und der Wachoffizier nicht. Ja, sagte ich, da müsste ich wohl im Wachgebäude schlafen, was natürlich abgelehnt wurde (hatte ich auch nicht ernstlich vor), aber irgendwie musste ich bedeuten, das etwas passieren müsste.

Nun, für alles gibt es eine Lösung, und die bestand hier aus.....nun ja, nennen wir es eine Bearbeitungsgebühr von UAH 200,00 bzw. EUR 12,50, welche verdeckt in einem Stück Papier übergeben werden mussten. Mein Propass (ein Stück Papier) wurde sodann ausgefertigt und ausgehändigt und mit der Ermahnung, nicht den Weg zu verlassen, öffnete, sich die Schranke und mit militärischer Ehrenbezeugung wurde ich auf den Weg geschickt. Ich will hier nicht richten, vielleicht hat man mir einen Gefallen getan, und tatsächlich hätte es sonst kein Durchkommmen gegeben. Die Leute waren sanft (hätte auch ganz anders laufen können).



(gezeigte Marke habe ich 2016 im Filatelia-Geschäft in Iwanko-Frankiwsk gekauft)

Der Gruselfaktor war natürlich gewaltig, auch wollte ich mich in dem Abschnitt nicht länger als nötig aufhalten. Mir wurde auch die Ermahnung klar, den Weg nicht zu verlassen, im Sperrgebiet gab es nämlich eine kleine Geisterstadt, aufgegeben nach dem Unglück, bei der die Natur im Begriff war, sich das Gelände wiederzuholen. Katastrophentouristen lockt das an. Den Weg soll man nicht verlassen, weil überall noch verstrahltes Graphit rumliegen kann, das hat sich nämlich seinerzeit unregelmäßig verteilt.

Nach ca. 12 km kam dann der Austritt aus dem Sperrgebiet, wieder eine Schranke, dort eine Wache mit Maschinenpistole, dort sprach man besser Englisch „I am Ukrainian Police, do you have a gift?“. Mein Gott! Der Preusse in mir war geschockt, der Rheinländer in mir sah sofort die Notwendigkeit zum Kompromiss (EUR 5,00), zumal die Sonne unterging.

Im Hinblick auf den aktuell, in diesem Moment stattfindenden Krieg ist es interessant, dass dieser Kontrollpunkt genau an einer Straßenkreuzung, lag, weswegen dort eine Sperre auch angebracht war (nach Osten ca. 50 km bis Tschernobyl, nach Norden ca. 20 km nach Weißrussland - genau hier sind die Russen vorgestoßen, aus einem radioaktiv kontaminierten Sperrgebiet von der Weißrussischen Seite heraus-, nach Westen ca. 40 km nach Owrutsch).

Die Straße nach Owrutsch haben die Russen nicht genommen, sie ist eng und geht durch die Prypjat-Sümpfe links und rechts. Perfekt für leichte Einheiten zum Angriff auf Kolonnen.

Nun, für mich hieß es damals volle Kraft voraus, da keine Unterkunft mehr kam, musste ich nach Owrutsch und dort was finden. Irgendwann um 22h00 kam ich in dem staubigen Städtchen an, Gott sei Dank habe ich das Gasthaus „Panska Kata“ gefunden. Die nahmen mich - trotz skeptischen Blicks meiner Wirtin - auch auf. Nachdem die Formalitäten und die Bezahlung klar waren, hat mich die Wirtin auch sofort ins Restaurant (mit gehaltvoller osteuropäischer Küche, nebenan feierten mit einer Karaokemaschine, schöne Stimmung) geschickt. Und dass ist es, was so wundervoll am Gastgewerbe ist: die schauen nach uns, kümmern sich um uns, versorgen uns gut. Das zeichnete die Wirtin aus – sie erkannte, was nötig war. Wo wären wir, wenn wir solche dienstbaren Geister nicht hätten.

Vor kurzem schaute ich mir aus aktuellem Anlass die Original-Reiseunterlagen an. Sogar eine handgeschriebene Restaurantrechnung von diesem Abend fiel mit in die Hände, bedient wurde ich von Anna.

Und darauf will ich hinaus – alle diese Menschen denen ich begegnet sind, haben einen Namen, ein Leben und sind in Gefahr. Durch den aktuellen Krieg. Mein Gasthaus liegt in der besetzten Zone und wird beschlagnahmt sein, wenn es überhaupt noch steht, vermutlich werden da Soldaten ihr Unwesen treiben. Das ist unglaublich und auch ungeheuerlich.

Für was, Leute, für was?

Damit man die beherrschen kann, für nichts anderes. Damit man die als freier Mensch nicht mehr besuchen kann.

Und wem nützt das, man hat doch schon 144 Mio. Menschen, die man schikanieren und einschüchtern kann. Denn ein materieller Nutzen besteht doch nicht. Keinem wird es dadurch besser gehen. Nicht den 144 Mio. Russen (die mit Ihren Erdöl-Milliarden doch die Ernte der Ukraine einfach kaufen könnten), nicht den 40 Mio. Ukrainern.

Gut, man kann die Ukraine ausbeuten. Aber es ist doch eine Illusion zu glauben, dass käme den 144 Mio. in irgendeiner Form zu gute. Bleibt die Elite, dann fallen also ein paar Milliarden mehr den ca. 1.000 Profiteuren des Putin-Systems zu. Wertschöpfung, die die nicht ausgeben können, und damit auch keinen Zusatznutzen darstellen kann.

Das macht mich so wütend. Ich sehe die Zerstörung, die Toten, Menschen in Angst, die durch eine unberechenbare Soldateska bedroht werden. Kafkaesker Terror um des Terrors willen.

Ansonsten eigentlich ein tolles Abenteuer, ein irre Anekdote, die mit der einen nominallosen Marke verbunden ist. Also, Briefmarkensammeln soll langweilig sein?

Nur schade, dass der Krieg einen so unübersehbaren Schatten wirft, was ich hier nicht ignorieren konnte, weil mich das bewegt.
 
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