Thema: Bayern ab "Pfennig-Zeit" 1876 bis 30.6.1920: Belege, Marken, Essays
bayern klassisch Am: 21.07.2022 11:10:00 Gelesen: 67352# 497@  
@ Gernesammler [#496]

Hallo Rainer,

die Trauer damals war echt, nicht nur ein Werbegag, oder eine Masche, um ein wenig Geld zu verdienen. Mit den Marken, die Bayern ja als erster, deutscher Staat stolz einführte, war auch eine Idendität geschaffen worden, die positiv war und von Selbstachtung geprägt war. Die Menschen liebten ihre Briefe und ihre Briefmarken - am Anfang noch die klassischen Ziffer-Ausgaben, später die Wappenmarken, dann die Luitpold- und Ludwig III Serien, am Ende die Abschiedsausgabe, die aber eher schnell dahin gepfuscht wurde, als dass sie sich gebührend in die Reihe bayerischer Qualitätsmarken hätte einreihen dürfen.

Das Volk empfand das als Sargnagel bayerischer Souveränität und viele hielten das Deutsche Reich für ein Synonym für Preussen und den Norddeutschen Bund. Wenn gleichzeitig das Verschwinden des geliebten Eigenen das Anwachsen des eher weniger geliebten Fremden darstellt, darf man sich keine Jubelsprünge erhoffen. Die Bevölkerung nahm das hin, weil sie es hinzunehmen hatte. Es gab auch zivile Protestler, die noch lange nach der Gültigkeitsfrist stur weiter mit Bayernmarken (ohne Überdruck) ihre Post frankierten und lieber mal eine Nachtaxe für ihre Korrespondenten in Kauf nahmen, als sich den neuen Vorschriften zu beugen und die neuen Reichsmarken zu benutzen, wie es auch eine gewisse Anzahl bayer. Beamter und sogar ganzer Behörden gab, die nach der Abdankung des letzten bayerischen Königs Ludwig III im Jahre 1918 nicht das "K" für "Königlich" in ihren Stempeln und Dienstsiegeln aptierten, sondern munter und fröhlich so beließen, wie sie es seit vielen Jahrzehnten kannten. Irgendwann war dann natürlich auch mal Schluß mit Lustig, aber hier und da hielt sich das bis 1921 noch, ehe andere Probleme die Welt verdunkelten.

Da bayerische Beamte nicht auf den bayerischen Staat, sondern immer nur auf die Majestät vereidigt waren, gab es auch welche, die sich nicht "unter das Joch" des Deutschen Reichs begeben wollten und ihren Dienst folglich noch 1918 quittierten, denn einen neuen Eid unter der Herrschaft des Kaisers mochten sie nicht ablegen. Das waren aber eher ältere Semester, die sich das eher leisten konnten, als "Newbies", die gerade angefangen hatte, auf ihre Kaution zu sparen.

Ab dem 1.4.1920 bis zum 30.6.1920 konnte man die vorhandenen Bayernmarken noch legal verwenden. Früher gab es auf Messen (Sindelfingen) und Tauschtagen öfter mal Belege, die von April bis Juni 1920 bedarfsverwendet wurden und man konnte sie für kleine Münze (wenn es nicht gerade postgeschichtliche Katalogbomben waren) schnappen und sich eine nette Nebensammlung aufbauen, die interessant war, weil man mit ihr Aussagen über eine spannende Zeit treffen konnte und das zum Preis einer Bratwurst, wobei der belesenere Sammler sogar wirklich feine Stücke einheimsen konnte, die einem das Herz schneller schlagen ließen.

Das ist leider 20-25 Jahre vorbei - heute scheinen diese Stücke wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Dabei ist es sicher spannend zu sehen, wo wann welche neuen Marken (mit Überdruck Deutsches Reich) die alten Bayernmarken ablösten und man könnte dies hervorragend erforschen. Aber wenn das Material fehlt, oder zumindest zu fehlen scheint, ist Forschung schwierig und weniger attraktiv, als wenn man aus dem Vollen schöpfen könnte.

Vlt. sitzt auch einer auf zig Tausend Briefen und wir müssen warten, bis sein Testament verlesen wird, ehe wir wieder in die Lage versetzt werden, auf die Jagd nach solchen Stücken gehen zu können.

Liebe Grüsse,
Ralph
 
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