Thema: Gedanken zum Briefmarkensammeln
Bendix Gruenlich Am: 11.06.2023 13:53:36 Gelesen: 2806# 58@  
Ich blätterte durch die Zeitung, da bin ich über einen Artikel gestolpert, der sich mit Spekulationsblasen beschäftigte. Ich bin ja seit Jahrzehnten Kaufmann und lese ständig Wirtschaftspresse und kenne diese Form von Artikeln in- und auswendig. Es geht um die ewige Frage, warum wir Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt für Dinge große Summen Geld ausgeben, wo sich dann in der Rückschau herausstellt, dass diese Dinge danach für weniger Geld zu haben sind (seien es Tulpenzwiebeln, Aktien der Ostindien-Compagnie, eine postfrische Berlin-Sammlung oder was auch immer). Das mag ja mal ganz schön sein, hilft im Leben (und bei der entscheidenden Frage – wie viel ist mein Vermögensgegenstand heute und in der Zukunft wert) aber kein Stück weiter.

Jedenfalls wurde im Artikel auch das Thema Non-Financial-Token (NFT) gestreift. Und dazu gab es Abbildungen von Bored Apes, das spricht grafisch an – und das hat mich ans Grübeln gebracht.

Im Rahmen der Diskussion“Briefmarkenflut, Nutzungsrückgang, Sammlerschwund - Aussichten der Philatelie“ hatte ich auch schon mal auf die Notwendigkeit von Marketing hingewiesen und behauptet, dass uns da die Angelsachsen haushoch überlegen seien.
Wer sagt die Philatelie sei tot, dem sage ich, die wird nur nicht optimal vermarktet. Und das beweise ich jetzt durch eine simple Gegenüberstellung. Passt mal auf.

Also den Affen gab es als elektronisches Bild mit einer Auflage von 100.000 verschiedenen, leicht variierten (zum initialen Preis von Ether 0,08 – bei Emission EUR 200). Zeige ich gleich (gerne auch mal in Google suchen, da werden kompakt ca. 20 verschiedene dargestellt).

Dem stelle ich einfach Elisabeth II-Marken im Machin-Design gegenüber (habe ich gerade hier rumliegen). Habe sie nicht gezählt, aber es gibt bestimmt ca. 2.000 Varianten (Farben, Drucke, Darreichungsformen usw.)






Man vergleicht und sieht: das ist gar nicht so verschieden.

Aber was macht der Affe: der kommt elektronisch aufs Handy, und das kann man ja nicht mehr aus der Hand legen – es piept ja dauernd (wer ist hier eigentlich Herr und wer Diener?). Nicht nur das: die Firma, die den Affen vertickt, sendet auch dauernd tolle Angebote (zu deutsch: Werbung) für irgendwelche hippen, aber natürlich überteuerten Events, so dass die besagte Firma schon laut der Zeitung „Chip“ bereits USD 1.000.000.000 an Umsätzen zu verzeichnen haben soll (viele werden jetzt ehrfürchtig, aber wieviel hat die Royal Mail durch den Verkauf der Machins an Umsatz gemacht? Ein Vielfaches! Redet aber keiner drüber.).

Also: es ist hipp, es ist elektronisch, es piept, die Grafik ist temporär attraktiv, Justin Bieber hat eins (hat ihm die emittierende Firma wahrscheinlich in die Hand gedrückt, um seinen Namen verwenden zu können), man macht eine Menge Geld damit und das ist für viele supersexy (man glaubt, man besitzt es, dann kommt der Erfolg = $$$ = Konsummöglichkeiten = mehr Konsum = mehr Güter + mehr Sex (Geld ist eben geil) zu einem ins Haus.

Die Wahrheit: deine Ausgaben, sind der Umsatz / Gewinn der Firma. Meiner Erfahrung nach ist das Konto nach einer Ausgabe leer. Leeres Konto = weniger Konsummöglichkeiten.

Jetzt könnte man annehmen, das Bildchen nimmt aber immer und für alle Zeit an Wert zu.

Hier meine Erwiderung: nehmt alle Güter, die ihr im Laufe Eures Lebens erworben habt und wieviele davon besitzt Ihr noch und wie hoch sind die Erlöse? Fakt: die meisten Güter sind verbraucht, abgenutzt, 96% sind schon echt auf die Müllhalde gewandert. Alle vier Jahre wechselt die Mode, Autonarren wechseln ihre Karre alle zwei Jahre gegen ein Neues, alle 10 Jahre richtet man sich neu ein.

Aber die Affengrafik soll diesem Geschmackswandel standhalten und auch in 10 Jahren so begehrt sein wie am ersten Tage?

Das ist lächerlich, ja kindlich. So ist auch die Grafik. Sie spricht doch Männer zwischen 20 und 50 an, die in dem Affen sich selbst sehen (nicht schön, letztlich ratlos, aber man ist nun einmal da) und wie Kinder die verschiedenen Versionen vergleichen (oh mit Sonnenbrille, oh mit Strahleaugen wie Supermann, oh mit Krone ich bin König usw. usw.). Erinnert mich an Kinderspiele, wo man einen Schrank oder den Speicher durchstöbert und entdeckt und sich verkleidet und erkennt, man kann jemand anderes sein.

Lustig: ja, Vermögensgegenstand zur Wertaufbewahrung: nein.

So kann modernes Leben laufen: sorgenfrei, häufig geschwisterfrei, hedonistisch. Anfällig für fehlende Überzeugungen und Glauben. Letztlich nie wirklich existenziell gefordert und bedroht. „Bored“ eben…and so sophisticated and so horny). Dabei kindlich geblieben und genauso manipulierbar und hysterisch wie ehedem (und wenn Du einen Fehler machst, paukt dich Omas Sparkonto oder Mamis Überweisung raus).

Vielleicht ist der Bored Ape ja eine coole Sau (wie man selbst). Und wie lang hält coole Sau sein eigentlich an, einen Abend, einen Monat, drei Jahre? Klingt nicht nach Ewigkeit.

Fast beneide ich die Leute, die sich ihre unbeschwerte Unreife bewahrt haben.

Und wer glaubt, dieser frisch entwickelte Token sei die universalgeniale Schöpfung menschlichen Geistes, ist ein Narr (und glaubt auch an nigerianische Prinzen, die erstmal 100.000 überwiesen bekommen müssen, um Millionen zurücküberweisen zu können und denkt „Sie haben Gewonnen“-Post sei Ernst gemeint, weil man vom Schicksal auserkoren ist, gut zu leben).

Ich will auch nicht ausschließen, dass wenn der Hype vorbei ist, deren Schöpfer sich über ihre Kunden lustig machen und klarstellen: es war halt nur ein Affe. Hat das nicht Warhol mit seinen Kunden gemacht….?

Dabei finde ich die Grafik gar nicht schlecht gemacht. Sie ist modern gezeichnet, spielt mit dem Wunsch des Betrachters sich verändern zu können oder jemand anderes zu sein. Die Idee die Figur zu variieren ist phantasievoll (auch wenn man sich mal wieder vom Computer die Phantasie vorgaukeln lässt) und auch unterhaltsam. Man kann sehen, was geht. Es ist auch nichts Schlechtes daran, sich unterhalten zu lassen und die Perspektive zu verändern.

Und wir Briefmarkensammler kennen doch diese Suche nach Farben. Kombinationen und Mustern auch. Damit kommen sich der Briefmarkensammler und der Ape-Lover eigentlich ganz nah.

Nehmen wir mal an, es gäbe Ape-Briefmarken und man würde auf der Post einen solchen Kleinbogen finden, den würde ich sogar mitnehmen und die Marken verkleben.

Aber: meine Sammlung ist einfach universeller und breiter. Ein Ape-Block wäre ein Detail, ein hunderttausendstel meiner Sammlung, eine Grafik von vielen, ein Beispiel aus tausenden von Möglichkeiten und Perspektiven. Und diese Vielseitigkeit werde ich mir nicht nehmen lassen, noch mich freiwillig beschränken, noch sie mir abkaufen lassen.

Nehmt irgendeinen Teil Eurer Sammlung, setzt Euch hin und benutzt die Grafiken Eurer Briefmarken als Stichwortgeber, lasst die Gedanken schweifen: hinsichtlich der Gestaltung, des Musters, die Zeiten, die historischen und kulturellen Hintergründe, denkt an Orte der Stempel oder nehmt einen Stift in die Hand und zeichnet nach etc., etc. und Ihr werdet feststellen, dass Stunden vergangen sein werden und diese Welt so groß, so groß ist und eine Kraft zur Gestaltung in der Welt ist, die fasziniert und weit über unsere Fähigkeiten hinaus geht – aber man kann ja lernen und Ideen adaptieren. Das transportiert die Briefmarke.

Intellektueller Quatsch? Letztlich tun wir das heute schon vom Beginn unseres Sammelns an, packen das aber nicht in Worte. Selbst wer Michel-Nrn. abhakt und Marken anhäuft macht das unterbewusst.

Schwanengesang? Ja, die Philatelie wird sterben, weil der Brief einfach keine Rolle mehr spielen wird, das ist dann auch das Ende des Gebrauchsgegenstands Briefmarke. Schade eigentlich – wahrscheinlich nicht zu ändern.

Jedenfalls sind die „Bored Apes“ wie dargestellt kein Ersatz und keine erstnehmbare Konkurrenz. Sie sind aber frisch, jugendlich und daher im Moment sexy. Die wirtschaftliche Bedeutung ist aber das Ergebnis einer professionellen Kampagne (einer Agentur, eines Teams, eines schlauen Konzepts, das mit menschlichen Schwächen spielt).

Briefmarkensammler sind vom Image her grau, alt und daher näher am Tod als am Leben also unsexy. Die Organisationen sind reglementiert und lassen einen raschen Aufstieg junger Menschen nicht zu. Wir führen auch keine frischen, nach außen gerichteten Kampagnen. Auch haben wir gar nicht das Budget für eine Kampagne, die im Übrigen Millionen kosten würde (sondern führen verbalen Bürgerkrieg um zweistellige Eurobeträge im Jahr).

Deswegen scheinen wir den „Apes“ nichts entgegenzusetzen zu haben, sind denen aber - wie dargestellt - letztlich mindestens ebenbürtig, eher noch überlegen (aber machen da keine große Sache draus - ist vielleicht unser Fehler).

Aber kann man für alten Kram eigentlich wirksame Kampagnen machen. Ja, kann man: Beweis – Mona Lisa, in meinen Augen nicht das beeindruckendste Kunstwerk der Welt, aber dauernd, wirklich dauernd in der (interessanterweise angelsächsischen) Presse. Folge: Besucherschlangen vorm Louvre.

Die Kraft der Briefmarke und der Grafik ihrer Gestalter ist da - bis ein neues Medium gefunden wird oder sich etabliert – und hier sehe ich aktuell noch nichts Vergleichbares, ähnlich Kompaktes, Anspruchsvolles, was die Marke ersetzen könnte.

Mann, oh Mann, der Beitrag ist schwere Kost geworden.

Aber wir Sammler können eben auch tiefgründig sein, das ist unserer Tätigkeit angelegt.

„Ich denke, also bin ich“ hat der Philosoph und Mathematiker Descartes gesagt, und das habe ich heute mal getan, herumphilosophiert (und Ihr auch, wenn Ihr es bis hierhin geschafft habt). Und Decartes kennt Ihr bestimmt. Z.B. Frankreich Michel-Nr. 347 – fehlt mit leider noch (aber unter Brüdern wohl für EUR 1,00 zu haben - und daher geringwertig?).

So, und jetzt steig ich mal von der Kanzel herab und gehe Bügeln


[Die Redaktion: Bored Apes = Bored Ape: Aus dem Englischen übersetzt-Bored Ape Yacht Club, oft umgangssprachlich Bored Apes, Bored Ape oder BAYC genannt, ist eine nicht fungible Token-Sammlung, die auf der Ethereum-Blockchain aufgebaut ist. Die Sammlung enthält Profilbilder von Cartoon-Affen, die prozedural von einem Algorithmus generiert werden. Wikipedia (Englisch)]
 
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