Thema: Rohrpostbelege
cartaphilos Am: 17.08.2011 23:25:24 Gelesen: 1315955# 676@  
Ein rätselhafter automatischer Uhrzeitstempel

Eingetroffen ist soeben die folgende unanbringliche Rohrpost-Karte:



Aufgegeben in Berlin W 64 am 6.2.1904, 6.20 N
Ankunft Berlin N.W. 25 am 6.2.1904, 6.40 N

dort unzustellbar laut Vermerk des Zustellers:

"Adressat Brückenallee 22 mit Hilfe des Portiers nicht zu ermitteln Gann PA 23."

sowie nach offensichtlicher Konsultation des zuständigen Polizeireviers "Nicht gemeldet Gann."

Zurück von der Zustellung kam es dann zu der üblichen Prozedur: "Aufruf erfolglos Rohrp 23"

Dann ging die Karte zurück an den Absender - doch halt: es war keine Absenderanschrift angegeben.

Also ersatzweise erst einmal den Dienstweg bis zum Aufgabepostamt zurückverfolgt:

Berlin N.W. 24, 6.2.1904, 8.40 N sowie

Berlin W 64, 6.2.1904, 8.50 N.

Fleißig wurde bis in den späten Abend hinein diese Sendung im Gegenwert von 25 Reichspfenningen bearbeitet, Luft wurde durch die Röhren gedrückt oder gesogen, Karten wurden in Büchsen gelegt und diesen entnommen bis das gute Stück wieder auf Aufgabepostamt angelangt war, und da war es immer noch weit von dem - wenigsten in wohnungstechnischer Hinsicht - unbekannten Absender entfernt.

Ein forschender Blick auf den Karteninhalt half da weiter: Ein Herr G. Bank hatte auf Bitten seiner Mutter einen Herrn Ludolf Poensgen eingeladen, mit dieser Dame - seiner Mutter - und seinerselbst um 1 Uhr - also 13 Uhr - im Hotel Bristol zu mittag zu speisen. Es war also ein Ort bekannt, an dem man die Chance hätte, diese Karte wieder an den Absender zurückzugeben, denn Herr Ludolf Poensgen würde sicherlich nicht anwesend sein, zumal die Karte ihn ja nicht erreicht hatte.

Und nun wird es spannend: Vom Postamt Berlin W 64, Unter den Linden 12, wurde diese Karte auf unbekanntem Wege (der Autor dieser Zeilen träumt immer davon, daß es sich um einen Hausrohrpostanschluß zwischen W 64 und dem Hotel Bristol gehandelt haben würde) in eben jenes Hotel Bristol zwecht Rückgabe an den um 13 Uhr am 7. Februar 1904 vermutlich im Speisesaal des Hotels Bristol anwesenden Absender ebendieser Karte verbracht.

Es gab irgendeinen uns noch nicht bekannten guten Grund, diese Karte bei der Ankunft im Hotel Bristol mit einem Eingangsstempel zu versehen. Es handelt sich dabei um einen automatischen Uhrzeitstempel, wie er auch beim Haupttelegraphenamt verwendet wurde, ja es ist sogar die gleiche blaue Stempelfarbe, die von den diversen Ausgefertigt-Stempeln des HTA bekannt ist. Mit anderen Worten: Das Hotel Bristol verfügte wie das Hotel Adlon übrigens auch über einen automatischen Stechuhrstempel, mit dem der Eingang von Sendungen bestätigt wurde.

Die Frage: Weshalb wurde dort ein Stempelautomat eingesetzt, der mit genauer Minutenangabe das Eintreffen einer Sendung dokumentierte. Der Stempel ist leider nur fragmentarisch abgeschlagen, doch eine farbveränderte Vergrößerung gibt uns einige Auskunft:



Wenn nicht alles täuscht, handelt es sich um den blauen Abschlag eines dreizeiligen Minutenstempels.

Folgendes ist zu lesen - oder zu erahnen:

1. Zeile: HOTE ISTO [rekonstruiert: HOTEL BRISTOL]
2. Zeile: FEB 9 01 PM [rekonstruiert: FEB 6 0 01 OM]
3. Zeile: BERLIN

Eine Jahreszahl ist nicht erkennbar, kann den Umständen entsprechend jedoch nur 1904 sein. Ein Tagesdatum ist nicht erkennbar, kann jedoch nur FEB 6 sein, denn die Uhrzeit ist eindeutig 9 01 PM.

Mit anderen Worten: Der Rohrpostbeamte im Postamt Berlin W 64 hat die Karte nach ihrer Rückkehr gelesen, hat den vereinbarten Treffpunkt Hotel Bristol identifiziert und die Karte ins Bristol weitergeleitet, denn er durfe recht in der Annahme gehen, daß es sich bei den Absendern um Gäste des Hotels Bristol gehandelt haben wird.

Und schon klärt sich womöglich die letzte Frage: Was bedeutet diese überdimensionierte, mit dicken Bleistift angebrachte Zahl 334 auf der Karte, die dummerweise über den Wertstempel geht und leider auch Details des blauen Automatenstempels überdeckt: Es handelt sich dabei - so meine These - um die Nummer des Zimmers, in dem Herr G. Banck mit seiner Frau Mama untergebracht waren.

'Eingelangt' - wie man in Wien sagen würde - am 6. Februar 1904, um 21.01 Uhr - identifizierte der mit eingehenden Rohrpostsendungen betraute Angestellte des Hotels Bristol - wieder unter großzügiger Auslegung des Postgeheimnisses und in maximaler Rufweite desselben handelnd - die in Zimmer 334 residierende Rumpf-Familie Banck (Mama, Sohnemann) als den Absender der Karte und lieferte dieses gute Stück, das seit heute meine Sammlung ziert, im Zimmer 334 ab oder stopfte es in das entsprechende Schlüsselfach hinter der Rezeption. Spätestens am Morgen des 7. Februar 1904, irgendwann vor oder nach dem Frühstück, wußten die Frau Mama Banck und ihr Sohn, daß sie lediglich zu zweit zu Mittag speisen würden, denn Herr Poensgen konnte nichts davon wissen, daß man auf ihn vergeblich gewartet hätte, wenn das PA Berlin W 64 diese Einladung nicht innerhalb von weniger als drei Stunden - massivst pneumatisch befördert - wieder an seinen Absender im Hotel Bristol zurückgegeben hätte.

Nur: Machte sich um 20.50 noch ein spezieller Bote vom PA 64 ins Hotel Bristol auf den Weg, um die Karte loszuwerden, oder hat es - was ich ja zur Seltenheits- und Wertsteigerung meiner Karte sehr hoffe - einen Hausrohrpostanschluß zwischen PA W 64 und dem Hotel Bristol gegeben, mithilfe deroselbigem die Karte der Rezeption des Hotels Bristol - oder einer nachgelagerten Einrichtung - auf den Rohrpoströhrenauswurf gepustet wurde?

Kurz genug entfernt vom PA W 64, das das nur zwei Straßenecken weiter lag, war es ja, um eine kurze Rohrpostverbindung zu installieren. Die Anschrift war Unter den Linden 5-6, also sechs Häuser weiter, und nach Änderung der Numerierung der Straße unter den Linden im Jahre 1936 wurde daraus Nr. 64. Im Krieg wurde es am 22. November 1943 durch einen Luftangriff zerstört. An die Stelle der großflächigen Bauruine errichtete dort die Sowjetunion ihre großdimensionierte Botschaft.

Theodor Fontane hat dem Bristol ein erstes literarisches Denkmal gesetzt und auf die Exzellenz hingewiesen, die man dort in allem erstrebte: "Alles ersten Ranges, kein Zweifel, wozu noch kommt, dass mich der bloße Name schon erheitert, der jeden Mitbewerb neuerdings so gut wie ausschließt […] wie damals mit den Witzen, so heute mit den Hotels. Alle müssen 'Bristol' heißen. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie gerade Bristol dazu kommt. Bristol ist doch am Ende nur ein Ort zweiten Ranges, aber Hotel Bristol ist immer prima."

Exzellenz, Exklusivität und Luxus: Das sind die Begriffe, die mit den großen Prachthotels verbunden werden sollten. Wer heute kein Hotel ohne Internetanschluß oder WiFi bucht, der war damals im Bristol gut aufgehoben. Nicht Besinnlichkeit in abgeschiedener Idylle, sondern Inszenierung des eigenes Lebens als Bestandteil einer Gemeinschaft von depressiven, kranken und alternen 'Weltbürgern', der dann Wicki Baum mit ihrem - gleichfals im Bristol spielenden - Roman Menschen im Hotel im Jahre 1929 das Denkmal gesetzt hatte. Hier wird auch die postalische Funktion der Rezeption genannt. In Wikipedia liest sich die Zusammenfassung folgendermaßen: "Im Foyer sitzt der vereinsamte und aufgrund einer Kriegsverletzung im Gesicht entstellte Dr. Otternschlag, der immer wieder an der Rezeption fragt, ob nicht eine Nachricht oder ein Brief für ihn abgegeben wurde, was jedoch nie der Fall ist. Dr. Otternschlag lebt als verbitterter Dauermieter im Hotel und ist morphiumsüchtig. Jeden Abend überlegt er sich, ob er nicht mit einer Überdosis aus dem Leben scheiden soll, doch findet er den Mut dazu nicht."

Es war die gleiche Zeit, in der Kurt Elschner als Besitzer des Hotels Excelsior am Anhalter Bahnhof - der auch schon einmal Adolf Hitler in den 1920er Jahren als miserablen und unerwünschten Gast rausgeworfen hatte, wofür dieser sich später auch übel rächte - in die Rezeptionshalle seines Hotels ein Hauspostamt (Berlin SW 110) mit eigenen Poststempeln einbauen ließ:



gezeichnete Ansichtskarte mit dem Haupostamt Berlin SW 110 im Excelsior (um 1930)

Rohrpostbelege in dieses und aus diesem Hotel sind bekannt:



Rohrpostkarte aus dem Excelsior



Rohrpostbrief aus dem Excelsior




österreichischer Eilbrief ins Excelsior mit blauem Automatenankunftstempel (Hausrohrpost?)



Rohrpostbrief ins Excelsior mit ovalem (privatem, nicht-amtlichem?) Ankunfstempel der Hotelpost.

Was nun noch lange nicht heißt, daß das Bristol im Jahre 1904 schon auf dieser Höhe der nachrichtentechnischen Perfektion gestanden hätte. Es ist eben nur dieser Automatenstempel, der so bau-, zeit- und farbgleich wie der des HTA ist, der uns hier einmal spekulativ nachhaken läßt.

Über entsprechende Verhältnisse hat der Verfasser dieser Zeilen aus Anlaß eines Rohrpostbriefes an einen Gast im Hotel Adlon bereits in Wikipedia geschrieben (http://de.wikipedia.org/wiki/Rohrpost_in_Berlin#Hotel_Adlon).

Hier nachfolgend der Einfachheit halber meine Darstellung:

"Im Oktober 1907 wird das Hotel Adlon am Pariser Platz eröffnet. Das Haus ist ähnlich wie das zu der Zeit noch bedeutendere Hotel Stadt Rom (Unter den Linden 10) mit einer Rohrpostanlage ausgerüstet. Inwiefern diese Anlage mit der postalischen Rohrpostanlage verbunden war, ist nicht bekannt. Es sind jedoch Rohrpostsendungen an Gäste des Adlon bekannt, welche auf der Rückseite einen Minuten-Ankunftsstempel des Adlon aufweisen, wie er bereits seit 1888 auch in den Telegraphenämtern nachweislich zum Einsatz kam. Die Inschrift des Stempels lautet „Hotel Adlon / Datum - Uhrzeit / Berlin“. Die „Brikettstempel“ auf der Briefrückseite sprechen für eine Eilzustellung durch entsprechende Boten. Das zuständige Zustellamt Berlin W 64 (damals: Unter den Linden 12) befand sich nur vier Querstraßen vom Hotel Adlon entfernt und wäre für einen Boten leicht erreichbar gewesen. Im Falle einer Eilbotenzustellung wäre der rückseitige Minutenstechuhrstempel des Adlon ein Beleg für die hausinterne, minutengenaue Dokumentation des Eingangs der Sendungen. Andererseits verlief seit dem 2. März 1868 unter dem Pflaster der Straße Unter den Linden in westlicher Richtung eine Rohrpostlinie bis zum Rohrpostamt VII am Brandenburger Tor, mit welcher diese Sendung schnell vom Postamt W 64 zum Pariser Platz direkt vor der Eingangstür des Adlon hätte befördert werden können. Insgesamt sind diese frühen Stechuhrstempel - insbesondere aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg - noch viel zu selten belegt, als dass man genauere Aussagen über ihre Funktion bei der Dokumentation der Behandlung von Rohrpostsendungen in Berlin machen kann."



Vorderseite eines Rohrpostbriefes ab Berlin SW 29 adressiert an einen Gast des Adlon, 13. Januar 1910



Rückseite des gleichen Rohrpostbriefes mit Minutenstechuhrstempel des Hotels Adlon



vergrößerte Abbildung des Minutenstechuhrstempels
 
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