Thema: Rohrpostbelege
cartaphilos Am: 10.09.2011 01:03:52 Gelesen: 1311112# 693@  
Blaujacke [#692]

Guten Morgen Uwe,

mein Bericht vom Rohrpostfestival bei Schlegel läßt noch etwas auf sich warten, weil ich gerade die Rohrpostumschläge des Admiralstabes durchdenke.

Ich meine, daß wir nur mit einer systematischen Sichtung aller verfügbaren DRUB's vor dem Hintergrund der postalischen Veränderungen zwischen 1914 und 1918 der Sache auf den Grund kommen.

Folgendes habe ich in Erfahrung bringen können:

Das Postamt Berlin W 56 befand sich in der Französischen Straße 33. Dies ist kein Grund zu Beunruhigung, wohl aber die Tatsache, daß in diesem Haus auch zugleich das Haupttelegraphenamt untergebracht gewesen ist. Um 1914 begann es mit 250.000 täglich zu bearbeitenden Telegrammen aus allen Nähten zu platzen. Ein neues mußte gebaut werden und es wurde gebaut: in der Oranienburger Straße viel weiter nördlich.

Der Umzug der einzelnen Betriebsteile des HTA fand ab 1916 statt und war um 1918 abgeschlossen. Bereits im Jahre 1916 wurde die Stadtrohrpost des HTA von der Französischen Straße in die Oranienburger Straße verlagert. Das bedeutete, daß in dem Gebäude, in dem einstmals das HTA seine Rohrpost betrieb, ab 1916 ein Postamt existierte, das zwar keinen Rohrpoststenpel führte, wohl aber in einem Haus arbeitete, in dem eine Rohrpostanlage installiert war.

Einige erste Schlußfolgerungen:

1.) Wenn HTA und W 56 bis 1916 voll umfänglich im gleichen Haus untergebracht waren, gab es bis dahin nur einen Grund, bei den Rohrpostleitvermerken zwischen W 56 und HTA zu differenzieren. Sendungen mit dem Leitvermerk "56" gingen an die Zustellung des PA W 56, andere Sendungen - durchzuleitende Sendungen mit anderen Leitvermerken oder mit dem Vermerk HTA - wurden vom HTA gemäß der Betriebordnung weiterverarbeitet.

2.) Wenn W 56 und HTA oder seit Ende 1916 noch Teile des HTA im Gebäudekomplex Französische Straße 33 verblieben, dann macht es Sinn, daß der Minutenankunftstempel des HTA auf der Rückseite abgeschlagen ist. Dein Beleg weist den Leitvermerk 56 auf und rückseitig den Minutenankunftstempel des HTA: ergo, der Brief ist in der - so vermute ich - gemeinsamen Rohrpostanlage von HTA und Berlin W 56 angekommen. Erst im Hause Französische Straße 33 - heute ist dies ein Deutsche-Telekom AG-Flietsteak in bester Berlin-City-Lage - wurde dann zwischen Destination HTA und W 56 unterschieden.

3.) Das scheinbar so 'rohrpostlose' Postamt Berlin W 56 ist also überhaupt kein rohrpostloses Amt gewesen, sondern arbeitete in dem Gebäude mit einer der gigantischsten Rohrpostanlagen der damaligen Zeit, nämlich der des HTA. Man brauchte einfach keinen zusätzlichen Rohrpostanschluß, denn der des HTA war zugleich auch der eigene. Und auch wenn das HTA seit 1916 allmählich in die Oranienburger Straße umzog, so brach man doch nicht einfach die Straßen auf, um die alten Leitungen und Röhren herauszuholen und sie in der Oranienburger Straße wieder einzubuddeln.

4.) Fazit: PA Berlin W 56 war gleichsam 'stiller Teilhaber' an den Rohrpostanlagen des HTA in der Französischen Straße.

Ich überblicke bisher folgende DRUB's an das Auswärtige Amt Wilhelmstraße mit oder ohne Leitvermerk:

17.1.1915 mit Rohrpostleitvermerk "56"



14.11.1916 mit Rohrpostleitvermerk "56"



15.11.1916 mit Rohrpostleitvermerk "56"



21.12.1916 ohne Rohrpostleitvermerk



5.4.1917 mit Rohrposteitvermerk "56"



20.4.1917 ohne Rohrpostleitvermerk



28.4.1917 mit Rohrpostleitvermerk "56"



21.12.1917 ohne Rohrpostleitvermerk



21.1.1919 mit Rohrpostleitvermerk "56", gestrichen und mit "8" überschrieben



Erste Schlußfolgerung: Schon zu Zeiten einer gemeinsamen Unterbringung von HTA und W 56 im gleichen Gebäude wurden die Rohrpostsendungen des Admiralstabes mit dem Leitvermek W 56 versehen.

Zweite Schlußfolgerung: Gelegentlich fehlende Leitvermerke sagen nichts über die grundsätzliche Lage aus

Dritte Schlußfolgerung: Der einzige mir bekannte Umschlag mit Überschreibung von [W]56 durch [W]8 stammt erst aus der Nachkriegszeit.

Vierte Schlußfolgerung: Der Umzug des HTA in die Oranienburger Straße hat an den Verfahren des Rohrpostbetriebes zwischen W 9 und W 56 nichts grundsätzliches verändert.

Hypothese: Der Rohrpostleitvermerk [W]56 meint das Zustellpostamt W56, die Sendungen werden über die Fahrrohre zum HTA zugeleitet, das im gleichen Hause wie das PA W56 lag.

Sollte es längerfristige Störungen in den Fahrrohren gegeben haben, wird geschehen sein, was immer in solchen Fällen geschehen ist: man ist auf Kuriere, Nahverkehrsmittel etc. ausgewichen. War dies beispielsweise bei dem mit [W]8 überschriebenen Beleg vom 21.1.1919 der Fall? oder steht dahinter eine Veränderung in den Leitwegsvorschriften für Rohrpost an die staatlich-administrativen Stellen? Doch nicht vergessen: am 21. Januar 1919 war die Berliner Innenstadt immer noch geprägt von den Spuren der revolutionären Spartakuskämpfe, den Barrikaden



und den Folgen des Panzereinsatzes der Reichswehr und der Freikorps gegen die protestierenden Arbeiter,



die ja u.a. das Zeitungsviertel in der Kochstraße, gerade zwei Straßenzüge weiter als das PA Berlin W 56 besetzt hatten.



Finden wir in diesen geschichtlichen Umständen die Erklärung für die Überschreibung des Leitvermerks [W]56 durch [W]8 auf einer Rohrpostsendung vom 21. Januar 1919, die mitten durch das von den Spartakuskämpfen gekennzeichnete Berlin gepustet werden sollte?

Jetzt müßten alle verfügbaren Rohrpostumschläge oder auch andere per Rohrpost beförderte Sendungsarten an das Auswärtige Amt in der fraglichen Zeit systematisch hinsichtlich ihrer Leitvermerke und ihrer rückseitigen Stempel untersucht werden. Vielleicht bringen wir dann noch mehr Licht in das Dunkel.

Wäre nett, wenn jeder seine Belege oder Kopien von Sendungen an die Chiffrierstelle des Auswärtigen Amtes hier per Scan mit 300 dpi einstellte, damit wir das Thema weiterentwickeln können.

Ich bin gespannt.
 
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