Thema: Rohrpostbelege
cartaphilos Am: 17.06.2012 10:25:17 Gelesen: 1234080# 773@  
Einen schönen Sonntag allen,

hier eine schöne Eilkarte, die am 13.12.1895 per Bahnpost Wismar-Ludwigslust nach Berlin aufgegeben wurde.



Der Adressat lebte in der damals ja durchaus schon bekannten Hubertus-Allee, die eine Verlängerung des Kurfürstendamms über Berlin-Halensee hinaus nach Grunewald war. Hier lebten die Reichen und die Superreichen Berliner und die Elite des Kaiserreichs. Ob sie auch schön waren, das mußten sie damals schon selbst herausbekommen.

Nun denn: Irgendwie war den Postbeamten damals nicht so richtig klar, was sie mit der Anschrift "Villenkolonie Grunewald bei Berlin" anfangen sollten. Da es ja den Postort gab und man auch wußte, daß das irgendwie jenseits des Ku'damms im Westen lag, kam es zuerst zu einer Ableitung von C2 (Uhrzeit 6 N) nach W 30, wo die Karte um 6.III N, also um 18.45 Uhr am frühen Abend ankam. Zu diesem Zweck wurde zunächst mit Rötel der Leitweg "30" oben links angebracht. Die Richtung war schon recht, nur sah man in W 30 (damals in der Zietenstraße im Norden des reichen Schöneberg gelegen) keine Möglichkeit, das Stück weiterzubefördern. Ein Beamter strich den roten Leitwegsvermerk "30" wohl zunächst mit Blaustift durch und setzte unten links mit gleichem Blaustift erneut "W / 30" hin. Doch strich er das soeben Hingeschriebene "W / 30" sogleich demonstrativ durch, so als wollte er sagen "nicht noch einmal nach W 30 senden". Dadurch erklärte sich das Postamt W30 definitiv für nicht zuständig.

Auf dem Weg der Umadressierung innerhalb des Amtes setzte ein weiterer Beamter noch einen Rotstiftstrich über die alte Leitwegsbezeichnung, bis schließlich ein weiterer mit wiederum anderer Rötelfarbe den neuen Leitwegsvermerk "9" mehr oder weniger direkt über den alten Vermerk schrieb. Jetzt sah das allmählich schon recht unübersichtlich aus und folglich wurde in die Mitte eine neue große rote "9" gesetzt. Der mit dem Rotstift angebrachten Anweisung folgend wurde die Karte dann nach W 9 am Potsdamer Platz abgeleitet, wo sie um 7 N, also 19 Uhr ankam.

Hier nun wurde sie mit Sicherheit per Postsack in die S-Bahn umgeladen und entweder per Wannsee-Bahn oder aber über Bahnhof Friedrichstraße und die zentrale S-Bahn-Linie, die über Charlottenburg nach Grunewald führte, schließlich in die Villenkolonie Grunewald bei Berlin befördert. Beim dortigen Postamt kam Stunde 9-10 N noch ein Stempel drauf und vielleicht ging es auch noch zur Zustellung. Ein Botenstempel ist jedoch nicht abgeschlagen.

Da die Post für die Eilzustellung an vielen Orten keine regulären Postbeamten einsetzte, sondern junge Burschen, die wie Tagelöhner eine Art Stücklohn für die Beförderung der ihnen übergebenen Sendungen erhielten, solche Berufsklientel im reichen Grunewald (abgesehen von den Domestiken in den Villen) jedoch eher selten anzutreffen war, ist es fraglich, ob die Karte mangels entsprechendem Personal überhaupt noch am gleichen Abend zugestellt wurde.
 
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