Thema: Postgeschichte 2. Weltkrieg - die "zivile" Seite
Cantus Am: 30.11.2012 03:10:26 Gelesen: 22818# 12@  
Ich will euch hier einen Brief aus unserer Familiengeschichte des Jahres 1943 vorstellen. Meine Mutter, geboren im Juli 1923, damals also mit zwanzig Jahren noch minderjährig, war 1943 bereits längere Zeit nach Ostpreußen zwangsverpflichtet worden und musste dort als Aushilfslehrerin tätig sein. Sie schrieb regelmäßíg an ihre Eltern in der Heimat Berlin, durfte selber aber nicht dorthin zurückkehren; erst mit den Flüchtlingstrecks gegen Ende des 2. Weltkrieges gelang es ihr nach abenteuerlicher Flucht, die Heimat wieder zu erreichen.

Für ihre Post verwendete meine Mutter jeweils das Papier oder die Postkarten, die sie irgendwie ergattern konnte. Es gibt daher recht unterschiedliche Poststücke aus dieser Zeit; hier hat sie das Formular eines Feldpostbriefes für eigene private Zwecke beanstandungslos verwendet.

Der Brieftext, den ich nachstehend zitiere, liest sich auf den ersten Blick recht harmlos, aber immer wieder gibt es da Passagen, die sich mit der vorherrschenden Mangelwirtschaft befassen. Und wenn das 1943 in Gumbinnen schon so war, wie mag es dann erst ein bis anderthalb Jahre später gewesen sein?




Gumbinnen, den 13.11.1943

Mein liebes Mutterchen !
In der letzten Woche habe ich Dir ja mächtig wenig geschrieben. Grund: Zeitmangel. In der nächsten Woche wird es nicht anders werden. Denke Dir, zu meinem Pech muß ich hier einen Luftschutzkursus mitmachen. Er dauert die ganze nächste Woche, täglich von 7 - 9 Uhr abends. Ich habe ‘ne Wut, aber es hilft nichts.

Fein, daß das Paket an mich unterwegs ist. Der alte Bezug ist trotz meiner Flickerei erneut an 2 Stellen zerrissen, der alte Stoff ist schon sehr mürbe. Wenn das Paket kommt, werde ich sofort die neue Bettwäsche aufziehen und die alte, schmutzige zu Dir schicken.

Muttel, die Zeit rast wieder mal! Doch bin ich im Augenblick gar nicht böse darab. Wenn ich daran denke, daß es in etwa 5 Wochen schon Weihnachtsferien gibt, hüpft mein Herz vor Freude.

Ich habe jetzt endlich einen Klavierstimmer ermitteln können. Der wird nun in der nächsten Woche an einem Vormittag kommen und den Flügel stimmen. - Beim letzten Konzert traf ich die Klavierlehrerin, die mich neulich vor Überlastung nicht zum Unterricht annehmen konnte. Sie ist jetzt einen Schüler losgeworden, so daß ich die freigewordene Stunde nehmen kann. Fein, nicht wahr? Ich will in der übernächsten Woche mit dem Klavierunterricht beginnen. Nächste Woche habe ich ja leider Gottes erst mal Luftschutzkursus.

Liebes Mütterchen, kannst Du nicht noch irgendwo Seidenpapier (in allen Farben) und Buntpapier für mich ergattern? Wenn ja, schicke es mir doch sofort als Doppelbrief zu, ja? Hier in Gumbinnen gibt es nämlich rein gar nichts. Und ich möchte doch mit meinen Kindern zu Weihnachten allerlei nette Sachen basteln und zusammenwerken in der Zeichenstunde. Da sind sie auch brav und tüchtig bei der Sache. Ich habe ihnen heute von meiner Weihnachtsfeier in der Groß-Schönforster Schule erzählt. Nun wollen sie unbedingt auch eine haben. Mal sehen, wie sie sich bis Weihnachten betragen! Diese Rasselbande ist bestimmt nicht wenig schuld daran, daß meine Mandeln wieder sehr schmerzen und der Hals dick und rauh ist.

Am nächsten Sonntag fahre ich wieder nach Hochfließ und freue mich schon sehr darauf. Morgen werde ich fleißig sein. Nachmittags bin ich bei den Schwestern Wetzel. - In herzlicher Liebe Dir, Annemarie und Vati meine Grüße.
Deine Hanna

So viel für heute.
Viele Grüße
Ingo
 
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