Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
DERMZ Am: 23.12.2018 21:32:18 Gelesen: 598010# 1099@  
@ JohannesM [#1051]

Guten Abend,

es hat eine Weile gedauert, aber hier ist ein Lösungsansatz für Deien langen Brief:

Liebes Minchen! Halberstadt, 26.VIII.40
Gestern den ganzen Tag in Bewegung mit Körper und
Geist komme ich mir heute sehr einsam vor. Einsam
und verlassen bin ich aber nie, wenn ich mit Dir, mein
Molly, zusammen bin. So will ich Dir auch heute gleich
schreiben, was ich eigentlich erst morgen tun wollte.
Deinen lieben Brief habe ich heute Morgen erhalten.
Ich danke Dir herzl. Molly. Was macht den Gudrun?
Geht es ihr wieder gut und hat sie einen Sohn bekommen
oder was ist oder war die Ursache?
Gern, zu gern hätte ich Dich mit in Berlin gehabt, Molly,
Du kannst Dir vorstellen, dass ich mir sehr verlassen
und zunächst etwas ratlos vorkam, als ich am Bahnhof
Potsdamer Platz ankam und nichts in Berlin kannte
ausser etwas dunklen Erinnerungen aus dem Jahre
1915, glaube ich, wo ich mit Mutter dort war. Ich habe
immer gedacht, wie schön es wäre, wenn ich mein
Minchen bei mir hätte, denn du wirst doch allerlei
in Berlin kennen. Ich habe noch in Berlin am
Bahnhof Ausschau gehalten in dem Gedanken, dass
Du doch noch nachgekommen seist.
Ich bin dann also allein losge...., d.h. mit
Der Strassenbahn nach der .. Strasse gefahren.

um dort im Heeres-Veterinär-Untersuchungs-
amt meine Fleischproben zur Untersuchung abzu-
geben. Wir sind übrigens durch den bei den uns herrschen-
den ?-Typhus für ein richtiges Pferdelazarett geworden,
bekommen scheinbar , weil wir nun die Sache sehr ener-
gisch und für militärische Begriffe recht gut erfassen,
höchste Belobigungen.
Nachdem ich die Proben abgegeben hatte habe ich mir
eine Nachtunterkunft gesucht, immmer gedacht, wenn
doch meine Molly hier wäre, die würde schon schnell
etwas anerkannt Gutes finden. Ich bin dann
In einer Pension am Wilhelmsdamm, gegenüber
Vom Bahnhof-Friedrichstrasse, sehr günstig gelegen,
gelandet. Die Pension war mir vom Oberfeldveterinär
empfohlen. Ich bin auch zufrieden gewesen. 4.50Mk
das Zimmer, ruhige und sehr günstige Lage.
Dann wollte ich möglichst viel in den 1.5 Tagen
von unserer Reichshauptstadt sehen. Wenn ich
nun aufzähle, was ich alles durchstreift habe, wirst
Du, meine Molly, vielleicht an deine Waden fassen
und o meine Zehen sagen. Ich muss nachträg-
lich feststellen, dass ich wirklich sehr viel gesehen habe.
Am ersten Abend war ich im Wintergarten (*), das
ging gleich gut an, wirst du sagen. Ja, ich hatte
vorher von meinem Fenster aus sogar noch etwas
anderes Interessantes erlebt. Eine schwere Kompanie
• Wintergarten = Variete Theater

war angetreten. Im strömenden Regen kam
eine Autokolonne vorgefahren. Graf Teleki, der un-
garische Minister wurde von Ribbentrop und Funk
am Bahnhof Friedrich Strasse in den Zug begleitet.
In dem Wintergarten war ich gestern, weil alle Kinos
überfüllt, alle Theater geschlossen und sonst am Abend
für mich nichts anderes anzustellen vor. Ich
habe mir etwas mehr unter dem Namen Winter-
Garten vorgestellt. Beinahe kitschig wirkt der künst-
liche Sternenhimmel über dem Raum. Das Programm
war sehr gut. Ich erzähle Dir später Interessantes daraus.
An dem Abend musste ich dann möglichst eilig
wieder nach Haus. Nu, wie denkst du, was? Ja, ich
hatte ein Zimmer bekommen, was keine weitere
Bezeichnung trug. Nahm an von wie etwa gleiches.
In der Hast war mir nicht genau mehr im Kopf geblie-
ben, welches Zimmer ich eigentlich haben sollte. Im
nicht mir zugeteilten schlief ein Ehepaar. Ich sagte
mir: auf keien Fall so spät kommen, dass die anderen
schon da sind; denn es sähe wohl dumm aus, wenn
man in solch kleiner Pension sein Zimmer verwechselt
mit einem anderen. Noch dazu war es fürchterlich
dunkel in Berlin und man fand kaum einen
jemand, der einem den Weg zeigte. Sonnabend-Sonn-
tag trifft man ja bekanntlich am wenigsten Berliner
auf der Strasse. Also ging ich auch nach Hause, fand

Strasse und Haus ohne zu fragen wieder. Mein
Zimmer jedoch war nicht das vermutete, sondern
das in dem ich das Ehepaar vermutete. Zum
Glück war das noch nicht zu Hause. Also mein
Plan hatte Recht und war siegreich verlaufen ohne
Blamage.
Am anderen Tag habe ich dann der Reihe nach
besichtigt, d.h. nicht nur von aussen: Zunächst
noch einmal zum Heeres Vet. Unters. Amt. Dann
daneben gelegen die tierärztl. Fakultät der Universi-
tät und die medizinischen Lehrinstitute.
...sche Hochschule ist bedeutend besser angelegt. Dann
kam ich an der Charite vorbei, bin durch die Anlage
gewandert, und habe in ihr und ihrer Nähe die Denkmäler
der grossen ärztl. und tierärztl. Forscher besichtigt. Charite
ist sehr gut angelegt und macht einen lebensfrischen
Eindruck durch die vielen Grünanlagen, nur stört
an einem ... die Bahn ziemlich. Die Mittel..
... aber fast störungsfrei. Dann bin ich zum
Reichstagsgebäude am Spreeufer entlang gegangen:
Gegenüber die Krolloper, in der der Reichstag in letzter
Zeit tagte. Von dort ging ich zum Ehrenmal unter
den Linden, wo gerade die Wache aufzog. Ein imposant-
es Schauspiel und sehr Sehenswert. In das Ehrenmal
ging ich dann entblösten Hauptes, wie alle dort dann
hineinströmenden Leute. Kränze lagen dort von Angehörigen

im Dasein der im Weltkrieg Gefallenen Soldaten und
von den Staaten Jugoslawiens, Bulgariens, Rumänien
und Ungarn. Es war dies da die Kränze
frisch waren wohl ein Zeichen, dass mit dem Balkan
z.Z. den Ländern Jugos., Bulg., Rum. und Ungarn
diplomatisch verhandelt würde, und sie alle nicht
ganz unfreundlich zu uns standen und stehen.
Ich bin dann in das Zeughaus mit der sehr schönen Ruhmes-
halle gegangen, nahm an einer Führung teil. Viel
schönes und Sehenswertes. Dann langte ich nach
einigem Umherirren an bedeutenden Bauten
vorbei zum Alexanderplatz, der unter dem Namen
„Alex“ bekannt ist und den ich auch einmal sehen
wollte. Verkehr war am Sonntag nicht sehr viel dort.
Ich habe dort in einem Lokal gegessen. Vom Pots-
damer Platz, wo ich ich mich erst genau nach meinem
Zug erkundigt hatte, fuhr ich dann amTiergarten,
Prunkstrassen, Ausstellungsgebiet vorbei zum Reichs-
sportfeld. Dort bestieg ich den grossen Glockenturm mit
der Olympiaglocke und dem herrlich-weitem und schönem
Ausblick auf das Sportgelände, Berlin und den Grune-
wald. Gegen Abend bin ich dann noch zum Schloss,
Friedrich-Museum, Pergamon-Museum, aber was
ich natürlich alles nur von aussen besichtigte und einige
andere Punkte von Bedeutung gesehen und ge-
gangen. Auf dem Wege zur Bahn fand ich zufällig die

die durch Wilh. Raabes „Chronik der Sperlingsgasse“
bekannt gewordene Sperlingsgasse und das Losungsschild
an dem Hause in dem Wilh. Raabe wohnte, das
neue Finanzministerium lag nicht weit da-
von. Am Bahnhof ging ich zum Schluss noch in
das Cafe Vaterland mit den vielen Attraktionen.
Im völlig verdunkelten Zug ging es dann wieder
nach Halberstadt, wo uns Fliegeralarm * erwartete.
Das von meiner 2. Fahrt in meinem Leben nach Berlin.
Gewaltig das ... und die Fläche. Über die
sich Berlin erstreckt. Trutzig-muhtig die ...
betriebsbauten, erfreulich die Neuorientierung
Berlins durch die Ost-West-Achse und dgl., schöne Linien-
führung neue Bauten, die sonst äussert sachlich
und z.Z. nüchtern erscheinen, gebrochen, gehemm-
te Harmonie in den Brücken und Anlagen im
Vergleich zu schönen Brücken in Wien und
auch z.Z. in München. Wohl politisch bedingt
und durch etwas Mangel im Harmoniegefühl.
Liebes Mollilein, hoffentlich können wir nun
bald wieder gemeinsam solche Fahrten machen.
Regelrecht zehrende Sehnsucht hat man danach. Aber diese
Zeit wird auch sicher bald wieder kommen.
Hast Du Mutters Geburtstag auch nicht vergessen?
Ich schreibe jetzt noch eine Karte und werde vielleicht
eine Kleinigkeit schicken.
Was machen deine Gladiolen, Molly? Jetzt ist doch
Bald Schluss mit dem Einmachen, was? Sonst können
wir ja gar nicht alles aufessen, fleissiges Minchen.

Nun, auf ein recht baldiges Wiedersehen in ?????, gemeinsam in Halberstadt
In treuer Liebe Dein Walter

Schreiben von Herrn Kolleg. ????? lege ich bei. Viel bringt die Angelegenheit nicht ein. Die Wegegebühren braucht er nicht zu teilen. Ich habe außerdem noch an das Kreisfürsorgeamt geschrieben. Garagenmiete, ?????? und Arzneimittelrechnungen. An beide schreibe ich nächste Tage.

Hast Du von ?????? ????? gehört? Ist alles gut verheilt?


• Erster Angriff auf Berlin in der Nacht zum 26August 1940 durch die Royal Air Force mit 50 Flugzeugen.


Beste Grüsse Olaf
 
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