Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
volkimal Am: 07.04.2020 14:30:11 Gelesen: 527226# 1479@  
@ evwezel [#1478]

Hallo Emiel,

mit dem zweiten Ausschnitt "ca. 1200 Franzosen" ist es klar, dass es wirklich "ca." heißt. Bei diesem Beispiel sieht man auch, wie das Zeichen vermutich entstanden ist:



Es ist ein "c" mit hochgestelltem und unterstrichenen "a".

Wenn ich mir den Bericht in dem Brief so ansehe bin ich heilfroh, dass ich bisher keinen Krieg erlebt habe. Hoffentlich bleibt es dabei.

Der Schreiber des Briefes benutzt für die Orte immer den französischen Namen. Daher sind sie manchmal nicht sofort zu finden. Hier der Text:

den Befehl, unsere Kolonne mit 648 Schuβ direkt bis an den Kanal in
Keyem [1] heranzuführen u. 100 Meter hinter den Batterien aufzustellen.
Unterwegs schon hatten wir das Vergnügen dem Platzen feindlicher Granaten
auf 50 - 200 Meter Entfernung zuzusehen und ich möchte, ihr könntet nur
einmal die Bemerkungen unserer Kölner Jungens hören, wenn so ein
Ding in ein Gegend einschlägt wo gerade keiner steht. Die Sache wur-
de allerdings so brenzelig, daβ ich die Chaussee verlassen und mein Kolönchen
mitten durch Feld schleppen muβte. Wir saßen dort im "Pratsch" [2], daβ wir
Schlittschuhe laufen konnten. Unsere Pferde waren total fertig, als wir bei der
Batterie ankamen. Ich habe in den Tagen immer unsre arme Infanterie bedau-
ert, die durch all diesen Dreck durchkriechen muβ, während wir auf stolzen
Rossen sitzen. Am 31.X wuβte sich der Feind nur noch durch Öffnen der Schleusen
zu helfen [3], und nun muβte alles die Gegend räumen. Am Allerheiligenmorgen
zogen wir in aller Ordnung über Thourout [4] nach Hooglede, wo wir Quar-
tier machen. Ich war an den Morgen zum Vizewachtmeister befördert worden und
ritt in aller Frühe nach Ghistelles [5] zum Pferdedepôt, wo ich meinen guten
trauen Max, der an einem Hinterfuβ verletzt war, gegen ein neues Schlachtross
eintauschte. Traf dort noch Hilgers Barthel aus Ungerath, mit den ich bei einigen
Glas Bier meine neue Würde begoß. Er hatte gerade einen Brief von Reiner bekommen
und wuβte alle Neuigkeiten. Mein neues Ross habe Merkur getauft, es
sollte schon schnell die Feuertaufe erhalten. Am 6ten Nov. hatte ich in Staden
am Bahnhof 300 Granaten geladen, die ich gemäβ Befehl nach Houthulst
führte, wo sie von den Protzen [6] der im Walde stehenden Batterien abgeholt werden
sollten. Kaum hatten wir Aufstellung genommen, als auch schon 2 feindliche
Flieger über uns surrten, die versuchten, Bomben in unsere Kolonne zu werfen.
Eine hinter uns stehende Kolonne, erhielt einen Volltreffer, wobei
5 Leute u. 15 Pferde getötet wurden. Die Bomben, deren äußere Hülle aus Alu-
minium besteht, haben ein furchtbare Wirkung, sie platzen direkt beim Auf-
schlagen und alles, was im Umkreise von 200 Metern steht, liegt glatt am
Boden, so gewaltig ist der Luftdruck. Unsere Ballonabwehrkanonen schossen
in einen fort nach den Fliegern und groβe Stücken platzender Schrappnells flogen
andauernd in unsere Reihen. Ein schweres Stück schlug einige Meter hinter
mir ein. Ich habe es nachher ausgegraben u. meinen Museum einverleibt.
Um 3 Uhr wurde die Sache so bunt, daβ ich mit einen Unteroffizier zur Batte-
rie vorritt, um diese zu biten, möglichst bald die Munition zu holen. Auf
einige hundert Meter waren wir herangekommen, als wir plötzlich über uns
das bekannte, unheimliche Surren anschwirrender Granaten hörten. Links
auf 150 Meter schlug die erste ein; rechts die zweite auf 50 Meter Entfer-
nung. Die dritte traf eine Chaussee kaum 10 Meter vor uns. Wo die andere
einschlugen habe ich nicht mehr gesehen, unser Gäule setzten sich ganz von
selber in gestreckten Galopp, links ab ging ´s in den schützenden Wald, den
wir in wenigen Sekunden erreichten. Hier stießen wir auf unsere Protzen,
die im Eiltempo angeschirrt hatten u. sich schleunigst in Sicherheit brach-
ten. Später hörten wir, daß die Granaten von französische Panzerautomo-
bilen geschossen waren, die ganz dicht an die Schützengräben heranfahren, schleu-
nigst 4-6 Schüsse abgeben und dann in rasenden Tempo zurückfahren. Eins
von den Dingern haben wir glücklich erwischt, die anderen sind bisher
entkommen. Um der Fliegerplage vorzubeugen, haben wir jetzt Befehl,
nur noch Nachts Munition zu bringen. Ich habe jetzt schon 5 Mal durch Nacht
und Nebel durchgemußt, angenehm ist es sicherlich nicht, im Stockfinstren zu
reiten. Lichter dürften wir nicht brennen, aber man schwebt doch nicht ständig so
im Gefahr.

[1] Keyem (franz.) = Keiem (deutsch) - Keiem ist eine kleine Stadt 7 km nördlich von Diksmuide
[2] Pratsch = Schlamm
[3] In der Ersten Flandernschlacht im Herbst 1914 setzten die belgischen Truppen das Schlachtfeld unter Wasser: Sie öffneten die Seeschleusen von Nieuwpoort bei Flut und schlossen sie bei Ebbe. Die deutschen Angreifer mussten sich daraufhin wieder hinter die Yser zurückziehen.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Nieuwpoort
[4] Thourout (franz.) = Torhout (deutsch)
[5] Gistelles (franz.) = Gistel (deutsch)
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Protze

Viele Grüße
Volkmar
 
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