Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
evwezel Am: 29.05.2020 16:20:13 Gelesen: 516971# 1663@  
Liebe Sammelfreunde,

ich habe mit dem folgenden Brief doch noch einige Schwierigkeiten. Schreiben mit Bleistift sollte verboten werden!

Viele Grüße und ein schönes Pfingstwochenende!

Emiel

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Seite 1
Ruβland, 25.October 1916

Lieber Franz! Zum 2ten u. 3ten Male
habe heute deinen lieben, langen u. hohentwaffen-
ten Reisebrief durchstudiert. Ich nahm dabei
eines der blauen Bücher meiner Bücherei u. zwar
"Groβe Bürgerbauten deutscher Vergangenheit" des
Verlags Langewiesches zur Hand und konnte
mich so recht in den Geist deines Brief (...)
einleben. Es muβ doch ein ganz besonders
Hochgenuβ gewesen sein, gerade in diesen Kriegs-
zeiten die herrlichen Denkmaler friedlicher Kunst
zu bewundern. Wann mag die Zeit kommen,
wo einem sowas wieder blüht? Hier die
(...), schreckliche Gegend habe ich nun doch gründ-
lich Leid. Wir waren herzlich gerne mit Gere(?)
Rumänien gezogen, schon um mal endlich andere
Menschen und andere Gegenden zu schauen.
Augenblicklich ist auch die schlimmste Zeit, direkt
(...) Wetter, nachts Frost u. tagsüber Feisel-
regen, die Wegen unbeschreiblich schlecht u. von 4 1/2
Uhr ab Starkfinker. Und dabei habe ich wieder
letzten 8 Tagen tagtäglich 40-50 Kilometer reiten
müssen, da ein Geheimauftrag mein ständige
Anwesenheit (...) verlangte. Abends hier zu
reiten ist (...) unheimlich. Ein Schritt von
Krüppeldamm(?) u. man steckt bis zum Hals in
Sümpf. Ohne Tassenlampe ist einfach nichts
zu wollen. Gestern Abend habe mich mit meinen
Burschen[1] direkt durch tasten müssen durch


Seite 2

die Finsterniß u. die Pferde kilometer mit am
Bügel nachziehen müssen. Eine Kunststraße[2]
gibt´s in der ganzen Gegend bis auf 100 kilometer
überhaupt nicht, Auto-Verkehr ist gänzlich
ausgeschlossen, selbst die höchsten Stäbe sind
auf´s Reiten angewiesen. Man ist direkt mit
dem Gaul verwachsen. Heute kann mal zu
Hause bleiben, da mein Chef als Richter zum
Kriegsgericht geritten ist. Ich war am Sams-
tag dort als Richter tätig. Es ist gerade
nicht angenehm, wenn man dort den armen Kerls
lange Gefängnißstrafen aufbrummen[3] muß, aber
es geht ja leider nicht anders, u. vor allem
werden die meisten Strafen erst nach den Kriege
angehoben oder vielleicht bei tadelloser Führung
auf die (...) erlassen. Am Sonntag habe
ich einige sonnige Stunden dazu benutzt der
dir gewünschten Karten herzustellen. Ich hoffe
damit einigermaßen meinen Dank für die Neu(?)-
kartensendung und den duftigen Tabak
abstatten zu können. Sobald eine Zeit der
Ruhe einsetzt, vielleicht in 3-4 Wochen, hoffe
dir von all meinen Aufnahmen Abzüge schicken
zu können. Für heute laβ es dir hiermit
(...). Auf meine mit so ausgesprochen groβen
Regatier(?)talent (...) Ältesten bin ich
nicht wenig stolz. Er scheint ein richtigen wasch-
echter Kriegsjungen zu sein. Könnte ich ihm nur
echtes sehen sammt Mutter u. Bruderchen.
Mit herzl. Gruβ-Kuβ
Richard

[1] Burschen = Jungens

[2] Kunststraße - Provincialstraße. Keine Ahnung warum es hier ein Strich über den Buchstabe "n" gibt

[3] aufbrummen = auflegen



 
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