Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
evwezel Am: 04.06.2020 11:10:50 Gelesen: 516542# 1720@  
Liebe Sammelfreunde,
hallo Volkmar,

ich habe hier wieder einen interessanten Feldpostbrief, leider auch mit Bleistift geschrieben. Trotzdem glaube ich, dass ich den Großteil des Textes gut übersetzt habe.

Viele Grüße,

Emiel
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Seite 1

Nowogrodek(Rußl.) 12. Oct. 1915

Lieber Franz!

Nach langer, langer Zeit endlich ein
Lebenszeichen von dir, allerdings auch
ein umso schönes, Fasanenbraten und
saure Gürkchen, ungewohnte Leckerbissen.
Fehlt nur noch das nötige Getränk. Bier
seit 3 Monaten nicht mehr gesehen, Wein ein
unbekanntes Wort, doch soll´s bald wieder
besser werden. Wer allen hoffen in einigen
Wochen in Urlaub zu kommen denn ich
möchte nicht, daß Elisabeth zum zweiten
Mal in schwerer Stunde ohne mich ist.
Ich vermute stark, daß es ein kleiner Wilhelm
wird, doch bin ich diesmal auch mit einen Töch-
terlein zufrieden. Vermutlich wurde ich in den
ersten Tagen des Novembers zu Hause
eintreffen. Und da werde ich sicher Gele-
genheit finden, im gemütlichen Familien-
kreise alle Ergebnisse unseres 600 Kilometer
Siegeszuges ausführlig zu erzählen.


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Vorerst haben wir hier um Nowogrodek
unsere Winterquartiere bezogen. Zwar ver-
suchen die Russen jetzt fast tagtäglich hier durch-
zubrechen, aber alle (...) ist vergeblich,
wir haben schon zuviel Zeit gehabt, uns vor den
Njaner(?) Sümpfen zu verschanzen. Zwar wä-
ren wir beinahe noch kurz vor unseren Ziele,
bei einem unerwarteten plötzlichen Durchbruch zu
nächtlicher Stunde abgefangen worden, aber un-
sere wackeren Pioniere griffen noch rechtzeitig ein und
schossen endgültig die Lütte. Hier im Lande
sieht es wüst und traurig aus. Arme, elende[1]
Flüchtlingen die Hab´und Gut verloren, sieht
man ständig die ödere, sandigen Straßen ein-
herziehen. Klapperigen[2] Pferdchen in den typischen
Russen(...) und auf diesen Frauen, Kinder
und armseliger Plunder. Dabei ist es hier schon
bedenklich kalt. Wir sammeln alle Schlitten,
da 5 Monate fast ununterbrochen Schnee
liegt. Landschaft ist nicht uninteressant,
viel Wald mit allerhand Raubzeug,
besonders viele Wölfe. Ich sehe mich schon
auf der Wolfsjagd im rasend(?) einherjägen-
den Schlitten; immer(?) hätte sich sowas ja im
Leben geträumt. Leider herrscht auch

[1] elend - kümmerlich, jämmerlich, beklagenswert
[2] klapperig - alt, durch längeren Gebrauch abgenutzt und nicht mehr sehr stabil, intakt

Seite 3

viel Cholera in hiesiger[3] Gegend, besonders in
der Civilbevölkerung. Die strengsten Vor-
sichtsmaßnahmen sind schon getroffen. Die
schlimmste Seuchengegend[4] war allerdings zwischen
der Bzuwa(?) und Warschau, wo wir allein
einen Friedhof mit (ungefähr) 5000 an Cholera und
Typhus gestorb. russ. Soldaten fanden.
Ungeziefer gibt es auch massig hier, doch
haben nur jetzt mehr Zeit, unsere Quar-
tiere zu säubern. Wir haben uns in einem
Gutshofe (ungefähr) 8 Kil. westl. Nowogrodek, direkt
an der Landstraße nach Nowojelnia, und
zwar in Koszelewo, niedergelassen.
Unsere Futterlinie haben wir in Rokot-
na ((ungefähr) 23 Kil.) und fahren hin nach Kol-
kowitscha, hin und zurück jedesmal 110
Kilometer. Heute bin ich allein mit der Co-
lonne in Rokotna, habe mit einständiger
Ununterbrechung von heute Morgen 7 bis
zum Abend 7 Uhr zu Pferde gesessen und
benutzte den Abend in der großen Stube
eines rechtrussischen Gutshauses, um noch
eine Stündchen mit dir zu plaudern.

[3] hiesig - hier befindlich; hier einheimisch, ansässig; von hier stammend
[4] seuche - sich schnell ausbreitende, gefährliche Infektionskrankheit

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Den Hauptinhalt der Stuben bilden hier
die ungeheuer mächtigen Kachelöfen. Sie
lassen auf einen bitter kalten Winter
schließen. Sollte es nicht schon vorher Schluß
geben, vorne die große französ. Westoffen-
sive zusammenbricht? Gebe Gott, daß
es wahr wäre. Ich habe Sehnsucht nach
der Heimat und meinen Lieben besonders meinen
Jungen wie nie zuvor. Mit Scheudern
denke ich an einen zweiten russ. Winter,
und doch wenn´s sein muß, denn Gott
befohlen. Nicht umsonst soll all´das teure
Blut vergossen sein, jetzt heißt es aus-
harren.[5] Und nun auf baldiges, frohes
Wiedersehen lieber Franz. Grüß deine
Frau Hirtien(?) und Frl. Hoster u. alle be-
kannte und sei du herzlichst gegrüßt
und geküßt
Dein Bruder
Richard

Gebe den Brief Urlauber mit.

[5] ausharren - an einem bestimmten Ort [trotz unangenehmer Umstände] bleiben, geduldig weiter, bis zum Ende warten




 
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