Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
volkimal Am: 29.05.2020 18:10:16 Gelesen: 517285# 1664@  
@ evwezel [#1663]

Hallo Emiel,

ja Bleistift ist manchmal nicht ganz so einfach zu lesen. Bei meinem letzten Beitrag hatte ich nicht aufgepasst und zwei Fehler beim Abschreiben gemacht, obwohl ich die Karte eigentlich richtig gelesen hatte. Ich hoffe diesmal ist alles in Ordnung - ich muss weg und habe schon wieder keine Zeit es noch einmal zu kontrollieren.

Hier mein Ergebnis:

Seite 1
Ruβland, 25.October 1916

Lieber Franz! Zum 2ten u. 3ten Male
habe heute deinen lieben, langen u. hohen treffen-
ten Reisebrief durchstudiert. Ich nahm dabei
eines der blauen Bücher meiner Bücherei u. zwar
"Groβe Bürgerbauten deutscher Vergangenheit" des
Verlags Langewiesche zur Hand und konnte
mich so recht in den Geist deines Briefes
einleben. Es muβ doch ein ganz besonderer
Hochgenuβ gewesen sein, gerade in diesen Kriegs-
zeiten die herrlichen Denkmaler friedlicher Kunst
zu bewundern. Wann mag die Zeit kommen,
wo einem sowas wieder blüht? Hier die
öde, schreckliche Gegend habe ich nun doch gründ-
lich leid. Wir waren herzlich gerne mit gen
Rumänien gezogen, schon um mal endlich andere
Menschen und andere Gegenden zu schauen.
Augenblicklich ist auch die schlimmste Zeit, direkt
ruppiges Wetter, nachts Frost u. tagsüber Fiesel-
regen, die Wege unbeschreiblich schlecht u. von 4 1/2
Uhr ab stockfinster. Und dabei habe ich in den
letzten 8 Tagen tagtäglich 40-50 Kilometer reiten
müssen, da ein Geheimauftrag mein ständige
Anwesenheit vorn verlangte. Abends hier zu
reiten ist direkt unheimlich. Ein Schritt von
Krüppeldamm u. man steckt bis zum Hals im
Sumpf. Ohne Tassenlampe ist einfach nichts
zu wollen. Gestern Abend habe mich mit meinen
Burschen[1] direkt durch tasten müssen durch


Seite 2

die Finsterniß u. die Pferde kilometerweit am
Bügel nachziehen müssen. Eine Kunststraße[2]
gibt´s in der ganzen Gegend bis auf 100 Kilometer
überhaupt nicht, Auto-Verkehr ist gänzlich
ausgeschlossen, selbst die höchsten Stäbe sind
auf´s Reiten angewiesen. Man ist direkt mit
dem Gaul verwachsen. Heute kann mal zu
Hause bleiben, da mein Chef als Richter zum
Kriegsgericht geritten ist. Ich war am Sams-
tag dort als Richter tätig. Es ist gerade
nicht angenehm, wenn man dort den armen Kerls
lange Gefängnißstrafen aufbrummen[3] muß, aber
es geht ja leider nicht anders, u. vor allem
werden die meisten Strafen erst nach den Kriege
angetreten oder vielleicht bei tadelloser Führung
auf d. Gnadenwege erlassen. Am Sonntag habe
ich einige sonnige Stunden dazu benutzt der
dir gewünschten Karten herzustellen. Ich hoffe
damit einigermaßen meinen Dank für die neue
Kartensendung und den duftigen Tabak
abstatten zu können. Sobald eine Zeit der
Ruhe einsetzt, vielleicht in 3-4 Wochen, hoffe
dir von all meinen Aufnahmen Abzüge schicken
zu können. Für heute laβ es dir hiermit
genügen. Auf meinen mit so ausgesprochen groβen
Requiriertalent ausgestatteten Ältesten bin ich
nicht wenig stolz. Er scheint ein richtiger wasch-
echter Kriegsjunge zu sein. Könnte ich ihm nur
öfter sehen sammt Mutter u. Brüderchen.
Mit herzl. Gruβ-Kuβ
Richard

[1] Burschen = Jungens

[2] Kunststraße - Provincialstraße. Keine Ahnung warum es hier ein Strich über den Buchstabe "n" gibt

[3] aufbrummen = auflegen

Viele Grüße
Volkmar 
 
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