Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
evwezel Am: 02.06.2020 12:42:40 Gelesen: 515341# 1700@  
Liebe Sammelfreunde,
hallo Volkmar,

das Pfingstwochenende habe ich benutzt, um einen längeren Brief von Leutnant Waters zu übersetzen. Ich habe fast den ganzen Text lesen können, mit einigen Ausnahmen.

Eine Warnung: Der Brief is nicht geeignet für Leser mit einer zarte Seele.

Viele Grüße,

Emiel


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Seite 1

Ruβland, 19 November 16

Lieber Franz!

Heute ist Sonntag, dazu der 19 November,
St.Elisabeth. Du kannst dir denken, wo da heute
den ganzen Tag über meine Gedanken weilen.
Jetzt schon zum 3ten Male feiere ich den Tag
in Feindesland, hoffentlich zum letzten Male.
Allerdings is man hier in Sachen "Frieden"
sehr pessimistisch; und wie könnte es auch anders
sein. Alle schöne Reden nützen nichts, dan kann
nur ein Hindenburg helfen, und der wird´s
auch hoffentlich machen. Sehr gefällt mir sein
Brief an den Reichskanzler. Ob er allerdings da
etwas erreichen wird, halte ich für sehr fraglich. Man
muβte denn nicht die Dickfälligkeit[1] unserer Agrarier
und ihre Unzugänglichkeit kennen, wann es sich um
ihr Eigeninteresse und ihren Geldbeutel handelt.
Ich möchte nur mal wissen, wieviel diese Patrio-
tismuspächter zur Kriegsanleihe[2] beigetragen haben,
ich glaube bestimmt, daβ ihr Beitrag so ungefähr
im gleichen Verhältniβ wie ihre Steuere zu bewerten ist.
Solchen Burschen ist nur mit Prügel beizukommen,
das Wort Idealismus ist für sie eine terra incognita.
Doch was nützt die Aufregung, es wird ja doch nicht anders.
Lieber wollen wir uns über anderes unterhalten.
Zunächst meinen herzlichsten Dank für die zwei Pfund
Tabak, die gestern ankamen. Du meinst es wirklich
zu gut. Ich bin jetzt mindestens bis Weihnachten
vollständig genügend vorsehen. Habe jetzt schon mit
Oberlt. Lucke Tabak gegen Cigarren ausgetauscht,
da letzten mir ausgegangen waren. Ich wundere mich
wie du noch an den Tabak kommst, andere Herrn können
fast nirgendwo welchen bekommen.

[1] Ich lese hier tatsächlich "Dickfälligkeit". Keine Ahnung was es bedeutet...

[2] Kriegsanleihe - Siehe https://artsandculture.google.com/exhibit/kriegsfinanzierung-%C3%BCber-kriegsanleihen/QQLu76Rl?hl=de Die Kriegsfinanzierung durch Kriegsanleihen war für Deutschland während des Ersten Weltkriegs die Grundlage für die Aufrechterhaltung der finanziellen Kriegsbereitschaft (siehe dazu mit weiterführenden Hinweisen den Quellenkomplex Kriegsfinanzierung). Neben den eigentlichen Zeichnungsaufrufen bediente sich die Reichsregierung einer ausdifferenzierten Propaganda. Einerseits sollten die finanziellen Vorteile von Kriegsanleihen als sichere und attraktive Geldanlage herausgestellt werden, andererseits appellierte man an patriotische Gefühle und stellte Kriegsanleihen als einen von allen Deutschen zu leistenden Beitrag zum Erreichen eines Sieges dar.


Seite 2

Übrigens sind wir alle Beide, was Rauchen anbelangt,
gegen meinen Kommandur die reinsten Stümper. Unter
10 Cigarren (schwere Brasil) und 1 (...) Pfeifen den Tag,
geht der nicht zu Bett. Dazu priemt[4] er ununterbrochen.
Was der Krieg so alles mit sich bringt. Doch kurz. u. gut,
also wenn ich bitten darf, schicke nächstens lieber mal
1 Kistchen Cigarren. Ich rauche zwar selbst im Hause
fast ausschlieβlich Pfeife, aber drauβen u. wann
Besuch kommt, fehlt es mir augenblicklich sehr
an Glimmstengeln[5]. Meine fotogr. Tätigkeit
muβt während den letzten, groβen Ereignisse fast
gänzlich still liegen. Nur einen Film habe ich
zu Wege gebracht u. der ist nicht mal bedeutend,
da der Film infolge der Nässe gezwollen war
und streifig geworden ist. Ich schicke dir heute
Abzüge davon mit, hoffe aber in nächster Zeit,
wenn klares Winterwetter einsetzt, mit besseren
Sachen dienen zu können. Auch gibt´s denn
beim Schnee schönere Motive. Wir haben jetzt
schon eine dünne Schneeschicht, doch reicht sie nicht
zum Schlittenfahren. Es ist ganz eklig kalt.
Seit 8 Tagen schwenkt das Thermometer zwischen
5-10 Grad unter Null, heute sind 8 Grad
bei starken, scharfen Nordostwind, der uns das
noch ständig anhaltende Artillerie-Duell am Skro-
bowabach recht deutlich zu Ohren führt. Wo
ich dieses schreibe, fällt fast jeden Augenblick
ein Schuβ, die Fenster klirren[6] in einem fort.
Und nun will ich dazu übergehen, dir unsere
groβen Sieg von 9ten dss das näheren zu erschreiben.
Ich schicke voraus, daβ ich inzwischen wieder von meineren
Stabskommandanten-Posten in Molezads abgelöst
wurde, nachdem der dafür bestimmte Rittmeister aus
der Heimat eingetroffen. Ich bin also wieder bei der alten
Kolonne.

[4] priemen = Tabak kauen

[5] Glimmstengel = Zigarette

[6] klirren = durch Aneinanderstoßen, Zerschellen einen hellen, vibrierenden Ton von sich geben


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Wie du weiβt, waren die Österreicher anfang Juli dss. Jahres
von Skrobowabach zwischen Zivin u. Gorodischtsche
von den Russen zurückgedrängt worden. Unsere Division
brachte damals die Sache zum Stehen, drängte den Feind
im Gegenangriff teilsweise zurück, vermocht aber damals
nicht, ihn über den Skrobowabach zurückzuwerfen.
Dadurch entstand eine unglückselige Lage. Die
Schützengräben lagen ganz dicht zusammen, man konnte
bequem mit Handgranaten hin u. herwerfen. So
entstand eind ständiger Stahkampf(?), der natürlich
beiden Teilen ganz erhebliche, schwere Opfer kosteten,
die zudem gänzlich zwecklos waren. Tag u. Nacht
flogen Handgranaten und Minen hinüber u. herüber,
das ganze Gelände wurde unterminirt, es war
eine Nervosität, die nich länger zu ertragen
war. Der 9ten Nov. bracht denn auch endlich die
Erlösung, die natürlich mit möglichst geringen
Verlusten unserseits verkauft werden sollte.
Anfang des Monates schon wälzte sich schwere
Artillerie in allen Tonarten heran. Von allen Seiten
krach sie, bei den trüben Wetter vom Feinde unbe-
merkt, heran. Wir nahmen den Bataillons-Stab
eines bayerischen 21 Cm. Mörser Batter.(?) bei uns auf,
und verlebten recht gemütliche u. interessante Stunden
mit diesen prächtigen Naturmenschen, die schon auf allen
möglichen Kriegsschauplätzen gewesen waren und recht
schön zu erzählen wuβten. Auch brachten sie einen
Waggon "Echt Kulmbacher"[7] mit, für uns eine
wahre Wollust. Gestern haben wir den Rest verzehrt.
Am Abend des 8ten Nov. waren sämmtliche Batterien
in Stellung gebracht und jede bekam ihr Schuβfeld
zugewiesen. Ein Heer von Minenwerfern hatte
sich voran in den Gräben eingebaut. Mehrere Ab-
teilungen Flammenwerfer (...) des Angriffs.
Wir Kolonnen fuhren fast ausschlieβlich schwere Wurfmeinen.

[7] Siehe https://www.kulmbacher-brauerei-ag.de/unternehmen/historie/

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Am Frühmorgen des 9ten Nov, begann das Wetter sich
aufzuklären. Besser konnte es nicht kommen. Schon
um 4 1/2 Uhr schwirrten Dutzende von Fliegern ganz
nahe über uns, schreubten sich in Spiralen hoch
und gingen zur Beobachtung nach vorne.
Um 5 Uhr begann die Artillerie aller Kaliber sich
einzuschieβen. Es klappte famos. Jeder Schuβ konnte
beobachtet werden. Von 8 1/2 war alles eingeschossen.
Punkt 9 Uhr setzte ein Trommelfeuer ein, wie
wir alle es noch nie gehört. Die Minenwerfer nahmen
die Drahtverhaue und die vordersten Gräben vor.
Sie haben mächtige Horizontalwirkung, reiβen aber keine
tiefen Löcher, die der Infanterie sonst beim Vorgehen
lästig. Die zweiten und dritten Gräben werden
von der schweren Artillerie vollständig eingedeckt.
Dahinter legt die Feldartillerie Sperrfeuer. Die
mittlere Artillerie, vor allen die Haubitzen, zersplitten
die Brücken über den Bach und belegen das ganze
Hintergelände mit Gasgranaten. Ein Vorbringen
von Reserven und Munition wird damit unmöglich
gemacht. Schon während das Höllenkonzerts laufen
die Russen zu hunderten über, Hände hoch,
mit verzerrten Gesichten und Klapperenden Zähnen.
Mehrere Male setzt die Artillerie plötzlich aus,
die Infanterie brüllt in den Gräben was die
Lunge halten kann. Scheinangriff. Die Russen
kommen aus ihren Löchern, unsere Maschinen-
gewehre rattern und mähen alles fort.
Die Brummer setzen wieder ein, 4 Stunden
lang dauert die Kanonade. Plötzlich, 12.59 Uhr
Pause. Die Flammenwerfer stürtzen vor, 60-
80 Mtr. lange Stichflammen vor sich herwerfend,
sie sengen die vordersten Gräben ab und bringen
allem Lebenden den sicheren Tod. Der Führer selbst
fällt durch Herzschuβ, noch ehe er ganz aus den Graben.


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Eine Minute später stürmt unsere gesammte
Infanterie vor, zunächst geschützt durch den
undurchdringlichen Qualm der Stichflammen.
Innerhalb 25-30 Minuten sind sammtliche
Gräben diesseits des Baches in unserer Hand.
Nur ein Panzerwerk mit etwa 500 Mann
Besetzung wird erst nach verzweifelten Kampfe
wiedergerungen. Ein Teil der freiwilligen
Stoβtruppen geht sogar im Übereifer über
den Bach, wird aber zurückgeholt, da wir
alles erreicht, was wir wollten. Mit den
nötigen Reserven wäre es ein Leichtes gewesen,
vollständig durch zu stoβen. Die endgültige
Beute betrug etwa 3500 Gefangenen, darunter
50 Offizieren, ferner 27 Maschinengewehre, 1 dzd
Minenwerfer und sehr viel Munition u. Kriegsgerät.
Die Gräben lagen voller Toten u. Verwundeten,
während wir ganz fabelhaft geringe Verluβte hatten.
Gegen 6 Uhr machten die Russen dem ersten Gegen-
angriff, der sich auch in der Nacht nochmals
wiederholte. Natürlich ohne Erfolg. Augenblick-
lich kämpft fast nur noch die Artillerie und
zwar sucht unsere die russ. zum schieβen zu
zwingen, um die neuen Stellungen herauszu-
knobeln. Jedenfalls hat unsere Infanterie es
jetzt bedeutend besser, sie kann sich für den Winter
einrichten, ohne immerfort gestört zu werden.
Unser Generalissimus von Woijna aber
hat einen Sieg errungen, der in jeder Weise
glänzend genannt werden kann. Man hört nur
eine Stimme: Woijna hat die Kiste(?) famos geworfen.
Die 5. R.D. ist zu recht stolz auf ihren General.


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Und nun lieber Franz für heute schluβ.
Ich muβ noch viel erledigen, bin auch mit meiner
Post noch sehr im Rückstand. Auch wirst
du es begreifen, daβ ich den gröβten Teil des
heutigen Tages Elisabeth u. den Kinderchen
gewidmet. Richard macht mir viel Sorge,
da er in letzter Zeit häufiger krank war.
Hoffentlich wird es nicht schlimmer. Es ist
für mich sehr hart, daβ ich meine Liebsten erst
im Februar wieder sehen soll. Mutter scheint
ja wieder etwas unter Zucker zu leiden.
Um diese Kriegszeit ist das doppelt schlimm
wegen der diätischen Kost. Gestern habe 6 Pfund
Butter u. 4 Pfund Wurst, die unser Marketender
in Warschau gekauft, nach Hause geschickt. Ich
hoffe es öfter zu wiederholen. Es ist zwar
teuer, aber man bekommt soviel, als man
haben will. Schade, daβ keine Beute aus
unserer Gegend bei der Kolonne, ich könnte
sonst häufiger einen nach Hause schicken.
Was macht deine Verhaltniβ zum kl.(?) Mili-
tarissimus? Schreibe bald wieder.
Herzl. Gruβ u. Küβe
Dein Bruder
Richard







 
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