Thema: Deutsches Reich Feldpost WK 2: Ruhrkesselmarke und Post aus dem Ruhrkessel
Stefan Am: 27.12.2020 13:28:07 Gelesen: 6534# 14@  
In einem größeren Belegeposten fand sich dieser Tage das nachfolgende (eher unscheinbare) Stück:



Ganzsache (Karte) aus Remscheid vom 30.03.1945 nach Rathenow (im heutigen Brandenburg gelegen)

Zum Ende des zweiten Weltkrieges versuchten westliche Alliierte (USA, Kanada, Großbritannien) unter Führung von General Dwight D. Eisenhower das Ruhrgebiet vom Rest des deutschen Reiches abzutrennen und militärisch zu besetzen. Eisenhower ging seinerzeit weiterhin von der Überlegung aus, dass das Ruhrgebiet trotz vorangegangener (flächendeckender) Bombardements der Alliierten aus der Luft weiterhin in der Lage wäre, kriegswichtige Güter zu produzieren. Vorherige Angriffe sollten Industriebetriebe sowie die Infrastruktur für den Transport (Verkehrswege) lahmlegen bzw. vernichten.

Vor der geplanten Besetzung des Ruhrgebiets sollte eine Überquerung des Rheins von West nach Ost erfolgen, wogegen sich die deutsche Wehrmacht auf Anweisung des Hauptquartiers in Berlin entsprechend sträubte und im März 1945 versuchte, mittels Rheinbrückensprengungen den Vormarsch der Kriegsgegner aufzuhalten bzw. zumindest zu verlangsamen. Dem in [1] gemachten Angaben (Bsp. Seite 7/8) nach waren die für die Abwehr zuständigen Angehörigen der deutschen Wehrmacht deutlich den Alliierten unterlegen, sowohl personell als auch in Bezug auf die Psyche und Physis. In Remagen (ca. 20 km südlich von Bonn gelegen) fanden die US-Amerikaner eine unbeschädigte Eisenbahnbrücke vor, welche bis zum 22.03.1945 als Brückenkopf ausgebaut und anschließend der Rhein überquert wurde. Am 23.03.1945 gelang es US-amerikanischen und britischen Truppen, bei Wesel (ca. 20 km nördlich von Duisburg gelegen) den Rhein zu überqueren. Diese beiden Rheinüberquerungen bildeten die Grundlage, um von zwei Seiten aus am Ruhrgebiet vorbeizumarschieren (Zangenbewegung) und es im nächsten Schritt zu umrunden (einzukesseln). Eine vereinfachte Darstellung der Truppenbewegungen befindet sich in [2].

Gemäß dem Handbuch in [1] (Seite 37) war Remscheid (zusammen mit diversen anderen Orten) am 29.03.1945 durch Truppen der Alliierten vom Rest des Deutschen Reiches weitgehend abgeschnitten. Die von Wesel im Norden bzw. von Remagen im Süden kommenden Alliierten Truppen trafen sich am 01.04.1945 (Ostersonntag) in der Nähe von Lippstadt - zuerst vorauseilende Truppenteile und am 02.04.1945 abends (Ostermontag) die Hauptteile der Truppen. Spätestens seit dem 02.04.1945 abends war der Ruhrkessel gebildet und das Ruhrgebiet inkl. der näheren Umgebung wie das Sauerland und das Bergische Land (u.a. Remscheid) vom Rest des Staatsgebietes des Deutschen Reiches abgeschnitten. Eine Verbindung auf dem Landweg war nicht mehr vorhanden.

Das Handbuch [1] beleuchtet nicht nur die militärische Vorgeschichte inkl. dem anschließenden Ablauf der militärischen Besetzung des Ruhrgebiets sondern befasst sich ebenfalls mit der postalischen Situation in dem sich ab Ende März 1945 anbahnenden Ruhrkessel, dies sowohl von der zivilen Seite (öffentlich zugängliche Postämter) als auch von der militärischen Seite (Feldpost). Als Beispiel wird in [1] die Stadt Essen ausgewählt, da das Hauptpostamt in Essen (Postamt Essen 1, schräg gegenüber vom Hauptbahnhof gelegen) eine Art Tagebuch führte und diese Aufzeichnungen erhalten geblieben sind. Nach [1] (Seite 29) kam am Abend des 29.03.1945 der Räumungsbefehl für das Postamt Essen 1, welcher zum 30.03.1945 gültig werden sollte. Das Postamt Essen 1 war zu schließen und in die Ausweichstelle in Neheim-Hüsten (heute als Stadtteile zu Arnsberg gehörend) zu verlegen. Demnach fiel spätestens am 30.03.1945 die postalische Infrastruktur, d.h. Sendungsannahme, -sortierung, -beförderung und -zustellung innerhalb von Essen in sich zusammen, so dass letzte gestempelte Belege aus Essen vom 29.03.1945 existieren dürften. Eine Beförderung und Zustellung dieser Sendungen vor Kriegsende ist zumindest fraglich. Essen war und ist (wieder) Hauptsitz des seinerzeit kriegswichtigen Konzerns Friedrich Krupp AG (heute ThyssenKrupp AG).

Da der Räumungsbefehl für verschiedene Städte (allerdings an unterschiedlichen Tagen) ausgesprochen wurde, überrascht es nicht, wenn die postalische (zivile) Infrastruktur sukzessive zusammenbrach - sowohl innerörtlich als auch regional (mit den benachbarten Orten) bzw. überregional. Dementsprechend sind lediglich wenige Belege aus der Zeit des Ruhrkessels (22.03.-17.04.1945) vorhanden. Die hier vorgestellte Karte wurde der zivilen Infrastruktur der Reichspost zur Beförderung und Zustellung übergeben, postalisch vermerkt (Tagesstempel) am 30.03.1945.

In [1] abgebildete vorhandene Belege (Seite 14 - 17) wurden nach dem Ende des zweiten Weltkrieges zugestellt (nach zuvor erfolgter militärischer Zensur) oder erhielten einen „Zurück“-Vermerk. Ein in [1] (Seite 16) abgebildeter Beleg vom 19.03.1945 wurde innerhalb des Ruhrkessels am 03.04.1945 zugestellt.

Lassen wir den Kartenschreiber an dieser Stelle selbst zu Wort kommen. Forumsmitglied volkimal war so lieb und hat sich den Text vorab angesehen (besten Dank dafür!). Nachfolgend die Wiedergabe des Textes - datiert auf den 29.03.1945 - in einer heutzutage leichter lesbaren Form:



Kartenrückseite:

Absender:
P.B. Bieler
22 Remscheid
Burgerstr. 29

Herrn
Peter Hansen
2 Rathenow
MN Arsenal

R 29. III. 1945
Lieber Peter!
Hab herzlichen Dank für
dein Unsgedenken. Es
freut uns zu hören, daß
es Dir noch gut angeht. Auch
wir können Dir mittei-
len, daß es uns Gott sei
Dank, noch immer gut geht.
Daß wir ein wenig nervös
werden, wirst Du in
unserer Lage wohl verstehen




Kartenvorderseite:

Können, denn einmal ist die Luft-
gefahr ziemlich brenselig und anderer-
seits rückt die Front doch immer näher.
An ein Verlassen der Heimat ist natür-
lich nicht zu denken. Fotogelegenheit
gibt es kaum noch und im übrigen
ist es nicht ungefährlich draußen zu
sein, wegen der Tiefflieger. Und den-
noch, einmal muß auch dieses Elend
aufhören und trotz allem ???. Er zu
unseren Gunsten! Wie, das weiß ich
freilich auch nicht. Aber in mir will die
Hoffnung auf einen sieghaften Abschluß
des Ringens nicht schwinden. Es gehört
allerdings viel Optimismus zu dieser
Hoffnung! Von den Kindern bekom-
men wir leider sehr selten Post. Es scheint,
daß sehr viel verloren geht, übrigens
kein Wunder. Vorgestern bekamen
wir eine Karte von Ruth vom 12.3.
Sie teilt mit, daß es ihr und den Jungen
noch gut geht. Werner war noch in Tr.
Hoffentlich ist er inzwischen zurück. Was
macht Ida? Kommt sie nicht hin und
wieder zu Dir? Mit herzlichen Grüßen
und Wünschen Deine Elisabeth u. Paul.


Die Stadt Remscheid wurde am 15.04.1945 von den Alliierten Truppen erreicht und besetzt. Damit ging der Krieg in Remscheid zu Ende.

Volkimal warf beim Vorablesen dieser Karte (berechtigt) die Frage auf, ob diese Karte vor Kriegsende überhaupt noch postalisch befördert wurde. Der Absender der Karte schreibt selbst allgemein von Angriffen tieffliegender Flugzeuge. Die Situation war alles Andere als förderlich für die Aufrechterhaltung einer zivilen Infrastruktur.

Eine gewisse Parallele hinsichtlich der fraglichen Beförderung von Belegen aus dem Thema [3] (Deutsches Reich Mi-Nr. 909/910 SA/SS) in der Endphase des zweiten Weltkrieges vor Ort ist nicht von der Hand zu weisen.

Eine Versorgung des Ruhrkessels aus der Luft heraus per Flugzeug (mit entsprechenden Rückflügen) ist wahrscheinlich konsequent mit (kriegs-)wichtigeren zu transportierenden Dingen belegt worden als mit mitzunehmenden Postsäcken. Im besten Fall ist eher von der Mitnahme einzelner Postsäcke auszugehen (als Lückenfüller im Flugzeug); drei konkrete Flüge unter Postmitnahme (Feldpost) vom 04.04.; 07.04. und 12.04.1945 werden in [1] auf der Seite 51 aufgeführt. Ein Hinweis auf eine Beförderung ziviler Post ist an dieser Stelle nicht vermerkt.

Allerdings trägt die Ganzsache keinerlei Hinweise auf einen Überroller (von den Kriegsereignissen überrollt), Schwärzung der nach Kriegsende unerwünschten Frankatur, postalische Zensur der Alliierten, einen postalischen "Zurück"-Vermerk oder einen (handschriftlichen, privaten) Eingangsvermerk nach Kriegsende. Die Karte war nach Rathenow adressiert, welches nach Kriegsende im Mai 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone lag.

Da es sich hierbei um eine ganz gewöhnliche Karte und nicht um eine nachweispflichtige Sendung (Bsp. Einschreiben) handelt, sind auch keine sonstigen postalischen Hinweise (Bsp. Durchgangsstempel) vorhanden bzw. wären diese auch nicht verpflichtend gewesen. Wäre nicht das Datum des Poststempels dieser Karte ungewöhnlich, würde diese Karte eher den üblichen Eindruck erwecken, als sei diese befördert und zugestellt worden (= als grundsätzliche Annahme bis zum Beweis des Gegenteils).

Sollte es diese Karte tatsächlich aus dem sich anbahnenden Ruhrkessel herausgeschafft haben, dürfte es sich vermutlich um eines der letzten Stücke vor Kriegsende in Remscheid handeln.

Andererseits ist grundsätzlich nicht auszuschließen, dass die hier gezeigte Sendung von den Kriegsereignissen überrollt und nach Kriegsende ohne eine weitere Kennzeichnung bei dem Empfänger zugestellt wurde.


Am 17.04.1945 beendete die deutsche Wehrmacht geplant die Kampfhandlungen im Ruhrkessel. Selbst der Termin der Beendigung wurde bereits einige Tage zuvor (13.04.1945) durch den befehlshabenden Generalfeldmarschall Model festgelegt (siehe [1] Seite 40), d.h. konkret wurde am 13.04.1945 die Auflösung der Heeresgruppe B auf den 17.04.1945 terminiert um damit einer formellen Kapitulation der Wehrmacht im Ruhrkessel zu entgehen.

Das Ergebnis ist gleich, es lief auf das von beiden Seiten vor Ort erwünschte Ende des zweiten Weltkrieges in den betroffenen Orten hinaus. Da die Ausführung des aus Berlin erwünschten Nero-Befehls (d.h. Zerstörung aller für die Alliierten nützlichen Industrie-/Versorgungseinrichtungen und Verkehrsinfrastruktur) vor Ort (weitgehend) verweigert wurde und es nicht zur Bildung von Partisanengruppen kam (Werwolf-Aktionen), ließ sich mit der zunehmenden Einstellung der Kampfhandlungen seitens der Wehrmacht eine weitere großflächige Zerstörung der Städte (Ausnahme u.a. Dortmund) im Ruhrgebiet und Umgebung vielfach vermeiden. Die bereits bis dato zerstörten Gebäude sowie Straßen- und Schienennetze sorgten bereits in dem bestehenden Umfang nach Kriegsende viele Jahre lang für einen Wiederaufbau.

Gruß
Pete

[1] Neue Schriftenreihe der Poststempelgilde "Rhein-Donau" Heft Nr. 91 des Autors Alfred Meschenmoser: "Der Ruhrkessel / 22. März - 17. April 1945 / - eine zeitgeschichtlich-philatelistische Betrachtung -" (http://www.poststempelgilde.de/downloads/Poststempelgilde%20Literaturliste.pdf )
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Ruhrkessel bzw. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Ruhrpocket.png
[3] https://www.philaseiten.de/cgi-bin/index.pl?ST=2916&CP=0&F=1 ( "Deutsches Reich 909/910 SA/SS: Michel streicht die Briefnotierungen")
 
Quelle: www.philaseiten.de
https://www.philaseiten.de/thema/3932
https://www.philaseiten.de/beitrag/254214