Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
evwezel Am: 22.07.2023 16:31:00 Gelesen: 112519# 3003@  
Liebe Sammelfreunde,

Diesmal zeige ich Euch einen spannenden Augenzeugebericht vom Ersten Weltkrieg. Es ist leider eine richtige Sauklaue und ich möchte Euch gerne um Hilfe bitten. Also, fahren wir los:

Seite 1
Fransart[1], 16.2.15.

Liebe Cousinen!

Heute erst kann ich meinen Brief von vorgestern fortsetzen. Ihr werde
in den jetzigen gelesen haben, daß sich auf der mittleren westl. Kampfesfront
nur Artilleriekämpfe abspielen. Diese Kämpfe haben etwa vor 14 Tagen
ihren Anfang genommen. Daß wir in unserem Schußbereich[2] großen Anteil daran
haben, könnt Ihr leicht denken. Unsere Batterie, die in einer durchaus selbständigen
Feuerstellung liegt, losgelöst von den anderen Batterien des Bataillons, besteht
einteilungsgemäß aus 4 schweren Feldhaubitzen [3] (15mm Steilfeuergeschütze [4]).
Montag vor 14 Tagen, also gerade an dem Sonntag, als ich nach Anay(?)
zum Munitionsempfang mußte, bekamen wir 2-15m (Kurz?)kanonen
hinzu. Dazu kam schließlich noch ein 12 cm Geschütz, aber für diese 3 Geschütze
mußte eine neue Stellung hergerichtet [6] werden. Ihr dürft Euch nicht vorstellen,
daß man die Geschütze einfach auf einen x-(…) Platz hinstellt oder
dann schießt, sondern jedes einzelne muß eine sorgfältig ausgearbeitete
Einbettung erhalten. Die Einbettungsarbeiten der neue Geschütze
erforderten 6 Tage angestrengter Arbeit. Es muß immens viel
gegraben werden. Nur das Geschützrohr darf über die Erde herauswagen(?).
Die aufgeworfenen Erdhügel müssen wieder mit K(…) und Gestrüpp
bedeckt werden. Damit nicht die frische Erdprobe dem feindlichen Flieger sofort
in die Augen springt. Kaum waren diese Arbeiten beendet, da begann
auch schon die allgemeine Schießerei. Diese 15cm Kanonen kochen(?) un-
menschlich. Sie haben dabei aber lange nicht die Wirkung unserer
15cm Haubitzen. Combinieren wir dagegen die beiden Feuer, dann
können wir den Franzosen schon die Hölle ziemlich heiß machen [7]. Sie
schicken dann schwarmweise [8] ihre Flieger herüber. Sobald ein Flieger (feindl.)
über uns kreise, verhalten wir uns mäuschenstill. Die Geschützrohre
werden schnell mit Tannenästen gedeckt, die (…)mannschaft
kriecht in ihre Unterstände. Warum schießt Ihr denn nicht auf die
feindl.[9] Flieger? werdet Ihr wohl fragen. Das geschieht deshalbe nicht, weil
ein Volltreffer auf einen Flieger bis jetzt doch immer nur ein

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Fransart
[2] Schußbereich = Schussfeld
[3] Artilleriegeschütz zum indirekten sowie direkten Beschuss auf große Entfernung
[4] Steilfeuergeschütze = Geschütze, die in erster Linie dafür ausgelegt sind, Ziele mittels indirektem Feuer mit Erhöhung über 45° (und unter 90°) zu bekämpfen. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Steilfeuergesch%C3%BCtz
[6] herrichten = etwas durch vorbereitende Maßnahmen in einen solchen Zustand bringen, dass es benutzt werden kann
[7] Jemanden die Hölle heißmachen = Jemandem drohen; einer Person heftig zusetzen.
[8] schwarmweise = in Schwärmen
[9] feindliche

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Zufallstreffer bleibt und die Stellung leicht durch das Wiederungsfeuer(?)
verraten wird. Zur Beschießung der Flieger ist ein kurz(?) leichter
Geschütze noch zieml. weit hinter uns aufgestellt. Diese vertreiben
allzu vorwitzige [10] Gesellen (…) Ort.
Dass unser Feuer drüben zur Wirkung(?) haben muß, beweist
uns das Schießen der Franzosen. Sie wissen natürlich ungefähr unsere
Richtung und bestreuen daher unser Gegend weitens(?) mit Schrapnell
und Granaten. Vorvorgestern (…) (…) (…) (…) (…)
von uns ein. Etwa 100 m (seit?)wärts. Wir beobachteten aus
den Unterständen jedem einzelnen Schuß genau. Einmal jagten
sie 10 hintereinander auf ein und denselben Punkt. Eine Sonder-
beschäftigung von mir ist es, die Geschäften der Leute zu beobachten.
Die Kerls lachen laut auf, wenn die (…) (…) (…)
(…) krepieren. Was soll das Lachen? Ist es ein Verlegenheitslachen,
ein Vertragen(?) der inneren Unruhe, oder sind die Kerls aus Gewohnheit gegen
die (…)lische Wirkung des Feuers abgestumpft, sodaß sie eben aus
Stumpfsinn [11] lachen? Es ist mir noch nicht klar geworden, trotzdem
ich selbst mitlachen muß. Gestern hatten wir zum Abwechselung
eine Nachtschießerei, hervorgerufen durch eine Patrouillenknallerei
vor uns in den Schützengräben. Vor uns brennende Häuser, hinter
uns auch, unser eigenes Schußfeuer, dass bei jedem Schuß hell
aus dem Verschluß [12] emporloderte [13] und die Gestalten an den Geschützen
und die ganze Umgebung prall [14] erleuchtete, dazu der (…)-
(…), wirklich malerisch das Ganze! – Was ich Euch jetzt mitteile
ist etwas ganz persönliches, bleibt unter uns. Meinen Eltern sollen auch nichts davon
wissen, damit sie sich nicht unnötig beunruhigen. Ich mußte gestern zu ärztlichen
Untersuchung nach Nesle [15] (Feldlazarett I). Die Untersuchung ergab kurz: Eiterungs-
herd [16] in der Kieferhöhle [17] (unter der Stirnhöhle [18]) und dadurch bedingte Nasenwucherungen [19].
Entstanden ist das Ganze durch verschleppte [20] Erkältungen. Wahrscheinlich muß
ich in den nächsten Tagen auch in Nesle eine Operation unterziehen, durch die aber
nur die Wucherungen entfernt worden können. Viel Zweck hat die Geschichte nicht
da sie wieder nachwachsen. Der Eiterungsherd muß durch eine (…) Operation
die nicht im Feld gemacht worden kann beseitigt [21]werden. Mein Hauptmann
will mich nach Hause schicken. Ich soll auch dort operieren lassen und 4-5 Wochen
erholen. Ich persönlich möchte damit warten, bis ich Offizier bin, was vielleicht

Kopfüber
noch 2-3 Monate dauert. Seid mit den (…) herzlichst gegrüßt von Euren
Arnold

[10] vorwitzig = neugierig
[11] Stumpfsinn, der = Teilnahmslosigkeit, Dumpfheit und geistige Trägheit
[12] Vorrichtung, Gegenstand zum Verschließen, Zumachen von etwas
[13] emporlodern = in die Höhe lodern / aufbrennen
[14] prall = direkt auftreffend, ungehindert [scheinend]
[15] Nesle – siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Nesle.
[16] Eiterherd, der = einer eitrigen Entzündung / Abszess
[17] Kieferhöhle, die = im Bogen des Oberkiefers gelegene, in die Nase mündende Nebenhöhle
[18] Stirnhöhle, die = im Innern des Stirnbeins gelegene, in den mittleren Nasengang mündende Nebenhöhle
[19] Wucherung, die = krankhaft vermehrte Bildung von Gewebe im, am menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Körper
[20] verschleppen = (eine Krankheit) nicht rechtzeitig behandeln und so verschlimmern
[21] beseitigen = entfernen, aus dem Weg räumen






 
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