Thema: Sütterlin und andere Schriften - wer kann das lesen ?
evwezel Am: 11.03.2024 16:29:35 Gelesen: 10622# 3348@  
Liebe Sammlerfreunde,

meiner Erfahrung nach, enthalten Feldpostbriefe häufig mehr Drama wie eine Seifenoper. Ich zeige Euch heute einen Brief von einem Unteroffizier im Ersten Weltkrieg, geschrieben am 10. September 1915. Er hat gerade eine Nachricht von seiner Mutti empfangen. Sie beklagt sich darüber, dass Karl das Geld zum Fenster rauswirft. Außerdem kann Mutti nicht mehr schlafen, weil sie sich Gedanken macht über die Liebeseskapade ihres Sohnes. Was hat Karl mit seiner Freundin Thresi in Köln ausgefressen? Auf der ersten Seite fehlt mir übrigens noch ein Wort. Viel Spaß beim Lesen!

Emiel

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Seite 1

Stenay, den 10.September 15

Meine liebe Josefine!

Entschuldige bitte vielmals,
dass ich solange von hier nicht mehr geschrieben
habe, aber recht gerne hätte ich es schon getan
wenn man die nötige Zeit dazu gehabt hätte.
Wenn die Zeit da ist, greife ich natürlich zu-
erst die Feder für meine liebe, gute Thresi & hab(e)
ich in den Briefen auch das (…) von
meinen Erlebnissen mitgeteilt. Ja, manchmal
hat es mir seit unser letztes Wiedersehen hart
am Kragen(?) vorbeigegangen[1] & danke ich den
lb. Gott vielmals, dass er mich so glücklich bis
jetzt noch erhalten hat. Ja, lb. Josefine man
lebt hier nicht nur im Sorge um die Lieben
zu Hause, sondern bekommt auch noch Briefe
von zu Hause wie soeben von Mamma der
auch schwer drückt & gekränkt hat. Erstens
schrieb sie, hätte sie sich eine unruhige Nacht
angetan, weil Pappa mich mit Thresi in Cöln
an dem Morgen allein gelassen hätte. Liebe
Josefine ich bitte Dich an, hältst Du das für
möglich. Eine solche reine, wahre Liebe wie
wir zwei haben, gibt es überhaupt nicht
& ist mir nie der Gedanke gekommen mich auch
nur ehrer zu Schulden kommen zu lassen.

Seite 2

Es waren für uns beide glückliche ja
sehr glückliche Stunden & werde ich sie nie in
meinem Leben vergessen. Dann schrieb Mama
wegen Geld. Du weist es ja genau so wie ich, dass
ich meine Ehre darin lege alles was ich eben
missen kann, nach Hause zu schicken & schmerzte
es mich sehr, solches zu hören. Dass wir hier
auch Ausgaben haben, ist selbstverständlich
& hab‘ ich mich in Coblenz bei meinem Schneider
gleichzeitig für den Winter gedeckt. Anbei eine
kleine Aufstellung von diesem Monat & hat
Vater in Cöln ja selbst gesehen, was das
Leben draussen kostet. Ich sag‘ Dir dass ich
heute den ganzen Tag nichts wert bin & hab‘ ich
meinem Herzen einmal freien Lauf gelassen,
indem ich mich einmal ordentlich ausgeweint
habe. Ich weiss ja, Mutter meint es nicht so,
aber ich sage Dir für einen denkenden & fühlen-
den Menschen ist es hart wenn man solche
Zeilen in diesen harten Zeiten lesen muss.
Nun genug! Ich möchte an dieser Stelle nicht
versäumen Euch allen, besonders Dich vielmals
zu danken für all‘ die Aufopferung & Liebenswür-
digkeit die Ihr meiner lieben Thresi erwiesen
habt. Hoffentlich macht ihr Euch nicht zu viel
Arbeit, da sie es wirklich nicht wünscht &
ausserdem nicht gemütlich ist.
Nun ich wünsche Euch alles Gute & Beste!

Text auf der linken Seite
Mit herzlichem Gruß und Kuss an Eltern, Geschwistern, meine liebe
(?) Clärchen. Dein treuer Bruder Karl.

[1] Die Redewendung "Hart am Kragen vorbeigehen" kenne ich nicht. Vermutlich habe ich etwas falsch gelesen.


 
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